Oscar-Verleihung: Die späte Ehre der Emmanuelle Riva
Als Michael Haneke ihr vor ein paar Jahren die Rolle der Anne in seinem Film „Liebe“ anbot, begriff Emmanuelle Riva sofort, was sie in den Händen hielt. Mit Mitte 80 ist sie nun wieder ein Star. Und zugleich die älteste Schauspielerin, die je für einen Oscar nominiert wurde.
Keine Sentimentalitäten. Emmanuelle Riva wiederholt diese Worte, als wären sie eine Art Zauberformel. Sie spricht sie langsam aus, sehr deutlich, als wollte sie sicher gehen, dass sie am anderen Ende auch wirklich ankommen. Ihre Stimme ist hell, scheinbar alterslos, vor allem: unverkennbar.
Vielleicht ist es tatsächlich ihre Stimme, was am meisten an ihr beeindruckt. Es ist dieselbe, die manch einer noch aus „Hiroshima mon amour“ im Ohr haben wird, aus Alain Resnais’ Welterfolg, der sie 1959 zum Star machte. „Ich habe alles gesehen“, wiederholte sie damals, während die Bilder der Atombombenopfer über die Leinwand liefen, „ich weiß alles über Hiroshima.“
Mehrmals entschuldigt sich Riva am Telefon, dass sie nicht zu Hause empfangen könne. Zu müde sei sie, erschöpft, überrannt von dem Erfolg, mit dem sie nicht gerechnet habe. Lang ist die Aufzählung der Preise, die sie für ihren Auftritt in Michael Hanekes Film „Liebe“ gewonnen hat. Am einen Tag müsse sie zu einem Filmfestival in ihrer Heimatstadt in den Vogesen, am anderen nach London, danach zur Oscar-
Verleihung nach Amerika. Natürlich sei das alles wunderbar, sagt Riva. Aber. Aber was? Sie habe das Gefühl, das passiere alles einer Doppelgängerin.
Ein Telefonat also, kein Hausbesuch. Keine Gerüche, keine Details, die etwas erzählen, keine Augen, in die zu blicken wäre. Bleibt ihre Stimme, am anderen Ende der Leitung. Bleiben die Puzzleteile, die sich zu einem Bild zusammenlegen lassen; bleiben auch die Impressionen derjenigen, die sie, ganz am Anfang, bevor der Erfolg über sie losbrach, noch bei sich empfangen hat. Jene Kollegin der Tageszeitung „Libération“ etwa, die ihr Porträt beginnt mit den Worten: „Es kommt nicht oft vor, dass man von der Schönheit einer Frau von 85 Jahren geblendet ist.“
Im hohen Alter ist Emmanuelle Riva plötzlich wieder Star, Hollywood Heroine, auf Augenhöhe mit Jessica Chastain, Naomi Watts und Jennifer Lawrence, die in diesem Jahr auf den Oscar hoffen dürfen. Riva ist die älteste je nominierte Schauspielerin, die neunjährige Quvenzhané Wallis, die dieses Jahr ebenfalls nominiert ist, die jüngste. Es ist, als habe Hollywood mit einem Mal die Kindheit und das Alter, die Ränder des Lebens entdeckt. Es ist wie in einem Märchen.
Als Haneke ihr vor ein paar Jahren die Rolle der Anne in „Liebe“ anbot, begriff Riva sofort, was sie in den Händen hielt. Eine Art Geschenk. Sie sagt, es sei pures Glück gewesen, dass er sie ausgewählt habe. Und doch habe sie keine Sekunde an sich gezweifelt, wusste, dass sie reif war für diese Rolle: „Tief im Innern habe ich gefühlt: Das kann ich.“
Anne ist eine pensionierte Klavierprofessorin, die Riva an der Seite von Jean-Louis Trintignant in der Rolle ihres Ehemannes in ihrer gutbürgerlichen Pariser Wohnung spielt. Beide sind über 80. Beide lieben sich, sind klar im Kopf. Anne ist kokett, sie hat Haltung, sogar Allüre, bis zu dem Tag, als sie einen Schlaganfall erleidet und begreift: „Von nun an wird es immer schlimmer werden – und irgendwann ist es dann vorbei.“
In einer Szene sitzt Anne hinter dem Flügel, und spielt, scheinbar, Beethovens Bagatelle Nr. 126. Plötzlich aber dreht sich ihr Mann im Sessel gegenüber um und stellt die Musik aus. Stille. Keine Bagatelle, sondern ein Körper, der versagt hat. Anne ist halbseitig gelähmt. Der Flügel ist nur noch eine Reminiszenz an ein anderes Leben.
Doch die Szenen, in denen ihr Mann mit ihr Laufen übt, in denen er ihr später aus dem Rollstuhl hilft, ihren Rock anhebt und sie auf die Toilette setzt, sind seltsam aufgeladen mit Erotik. Was macht man also mit einem Menschen, der erst die Kontrolle über seinen Körper und dann die Sprache verliert? Was macht man mit dem Menschen, den man liebt, wenn er leidet und einen das Mitleid zerfrisst? Darf man aus Liebe töten? Ist es womöglich eine letzte Liebespflicht?
Das Wort Berufung mag sie nicht. Sie spricht vom Glück
Keine Sentimentalitäten zeigen. Das muss Emmanuelle Riva entgegengekommen sein. Man spürt es sofort. Auch privat ist sie kein Mensch, der sich dem Selbstmitleid hingeben würde. Sie ist streng mit sich, präzise, im Gespräch wie bei der Arbeit. So präzise, dass man ihr durchaus auch zwanghafte Züge zutraut. Aber das macht sie nicht etwa bitter oder gar hart. Riva sagt von sich: „Ich bin jemand, der das Leben liebt und zwar wahnsinnig.“
Während der zwei Monate dauernden Dreharbeiten von „Liebe“ hat sie am Schauplatz gewohnt, im Filmstudio. Nicht etwa, weil sie aus der Rolle nicht mehr herauskam. Sie legt Wert darauf, das richtigzustellen. Sie wollte nur nicht täglich mehrere Stunden im Auto verbringen. Also hat man ihr ein Radio in die Garderobe gestellt, und abends hat sie zu den Klängen arabisch-andalusischer Musik getanzt.
Als Haneke ihr bei den Dreharbeiten riet, sich mehr zurückzunehmen, habe sich ein Fenster für sie geöffnet, erzählt Riva. Keine Sentimentalitäten zeigen, das war der Schlüssel zum Verständnis von Anne, deren Dahinsiechen sie spielt als wäre es ihr eigenes Ende. Es war der Moment, erzählt sie, von dem an alles wie auf Gleisen lief: „Nicht, dass es an Gefühlen gemangelt hätte, ganz bestimmt nicht. Nur sentimental zu werden, das durften wir uns nicht erlauben.“
Emmanuelle Riva spielt Anne mit jener Genauigkeit und Selbstaufgabe, die einen die Unterschiede zwischen Wirklichkeit und Fiktion, zwischen Leben und Leinwand vergessen lassen. Sie benutzt immer wieder das Wort justesse, la justesse des choses, die Eindeutigkeit und Richtigkeit der Dinge. Nicht danebenzuliegen. Drinnen zu sein. In der Rolle, im Körper einer anderen.
In Cannes, während einer Pressekonferenz der Filmfestspiele, erklärte Riva vor laufenden Kameras, diese Rolle sei für sie nicht schwer, sondern im Gegenteil genussvoll gewesen. Wie sie das eigentlich gemeint habe? In Anführungszeichen natürlich. „Ich habe mich fallenlassen. Wenn man einem Regisseur vertraut, geht das.“ Und das könne leicht etwas Wollüstiges, Sinnliches haben.
„Verstehen Sie mich richtig“, sagt Riva, „man darf sich diesem Gefühl der Wollust auf keinen Fall überlassen. Aber im Hinterkopf ist etwas, das einen darüber informiert, dass es soweit ist. Man ist drinnen. Aber, um Gottes Willen, bloß nicht darüber freuen. Erst am Abend, wenn die Arbeit getan ist und man weiß, dass man allen Grund hat, zufrieden zu sein. Dann hat es etwas Berauschendes, weil man glücklich ist, den Punkt getroffen zu haben.“
War es wirklich Glück, dass Haneke sie wollte, wie damals, als Resnais ihr die Hauptrolle in „Hiroshima mon amour“ antrug, ihr, die zuvor nie auf der Leinwand zu sehen gewesen war? Damals war sie Anfang dreißig, eine etablierte Schauspielerin auf Pariser Bühnen, aber das Kino, das kannte sie nicht. Mit einem Mal stand sie im Rampenlicht, die Magazine interessierten sich für sie und sie wurde nach Cannes eingeladen. Dort fragte sie ein Journalist, ob sie glaube, dass sich dieser Glücksfall noch Mal wiederholen werde. „Nein, jedenfalls nicht so bald“, antwortete Riva damals mit einem zauberhaften und irgendwie wissenden Lächeln.
Von Anfang an hat sie gewusst, dass sie Schauspielerin werden wollte. Das Wort Berufung mag sie nicht. Sie spricht vom Glück, das sie empfand, wenn sie vor der Klasse Gedichte aufsagte. Das war in den Vogesen, in einem kleinen Dorf. Der Vater, frisch aus Italien eingewandert, strich Häuser an, malte Schriftzüge an die Geschäfte und schickte sie in eine Schneiderlehre. Emmanuelle, mit wirklichem Namen Paulette, glaubte zu ersticken. Mit 26 bekommt sie schließlich einen Platz am Konservatorium in Paris. Danach reiht sich ein Angebot ans andere. Die Eltern sind beruhigt. Als modernste Schauspielerin ihrer Generation wird sie mit „Hiroshima mon amour“ Geschichte schreiben. Sie wird nicht heiraten, keine Kinder kriegen, als habe sie sich ganz auf die Arbeit konzentrieren wollen. Aber nach dem Welterfolg nimmt ihre Karriere einen seltsam unaufgeregten Gang. „Ich habe viel zu viele Rollen abgelehnt“, sagt Riva heute. Auf ihrer Stimme liegt plötzlich ein anderer Ton. „Schreiben Sie“, diktiert sie, „dass das keine sehr gute Idee war.“
Nun schließt sich eine dramaturgische Klammer in ihrem Leben
1962 erhält sie in Venedig für ihre Interpretation der „Thérèse Desqueyroux“ immerhin den Preis für die beste weibliche Hauptrolle. Sie dreht mit Regisseuren wie Jean-Pierre Melville, Georges Franju und Krzysztof Kieslowski. Sie wird nie aufhören mit der Schauspielerei, nie ganz aufgeben. Nebenbei wird sie Gedichtbände veröffentlichen, auch einen Bildband über Hiroshima mit Fotos, die sie damals mit ihrer Ricohflex 6x6 in den Drehpausen gemacht hat. Bevor sie vergangenes Jahr mit „Liebe“ wieder zum Star wurde, war sie hin und wieder noch in Kinofilmen zu sehen, als Großmutter in Julie Delpys „Skylab“ zum Beispiel.
Und nun der Oscar, der am 24. Februar in Los Angeles vergeben wird. Das ist der Tag ihres 86. Geburtstages, ausgerechnet. Ob Sie ein wenig Angst davor habe, wo jetzt so viele Erwartungen auf ihr liegen? Nein. Angst sei das nicht, sie sage sich vielmehr: „Meine Kleine, jetzt bleib mal schön mit den Füßen auf dem Boden.“ Im Übrigen habe sie bei ihrer Arbeit nie Preise im Kopf gehabt, niemals. „Für diesen Film genauso wenig wie für andere.“
Die „New York Times“ hat ihr neulich ein Filmteam ins Haus geschickt und einen Spot gedreht wie über alle anderen Schauspielerinnen auch, die für den Oscar nominiert sind. „Wide Awake“, hellwach, heißt er. Darin steht Riva in einem Supermann-Kostüm an ihrem Fenster und es ist, als überlege sie kurz, ob sie fliegen könne. Dann tänzelt sie im Nachthemd durch die Wohnung, springt in die Luft, man sieht, wie ihre Füße die Bodenhaftung verlieren. Sie hebt kurz ab. Im Film.
Ein halbes Jahrhundert nach „Hiroshima mon amour“ schließt sich eine dramaturgische Klammer in ihrem Leben: zwei Welterfolge, durch mehr als 50 Jahre voneinander getrennt, zwei Filme, in denen es um Liebe geht. Wieder ist Emmanuelle Riva nackt zu sehen. Ihre schöne Hand, die über den Rücken ihres japanischen Geliebten fuhr, hat sich verändert. Ihr Lächeln nicht.
Seit vierzig Jahren wohnt Riva in derselben Wohnung im Pariser Quartier Latin, vierte Etage, ohne Aufzug. Ihr langjähriger Lebensgefährte starb vor vierzehn Jahren. Es ist ein belebtes Viertel, eine Straße mit etlichen Feinkost- und Käseläden, mit Fischgeschäften und Bäckereien, die sie leicht spöttisch die Rue Bouffe nennt, die Fressgasse. Mehrmals täglich geht sie die Treppen hoch und runter. Sie hat, man sieht das im Oscar-Trailer, bunte Glasscheiben in ihren Wohnzimmerfenster, die an die Butzenscheiben im Flurfenster der Wohnung in „Liebe“ erinnern, aus dem sich Anne am liebsten gestürzt hätte. „Das haben sie doch gesehen, oder?“ fragt Riva. Sie will sich vergewissern, ob man begreift, dass Anne ihrem Leben ein Ende gesetzt hätte, wenn sie denn noch gekonnt hätte.
Emmanuelle Riva hat kein Handy, auch keinen Computer. In dem kleinen Film über die Hollywood Heroines sieht man eine Tafel auf ihrem Kamin, auf die sie mit weißer Kreide Sachen notiert. Aber niemand weiß, was sie dort aufschreibt. Banale Einkaufslisten, Gedichtzeilen, Zitate? Vielleicht auch nur Amour.
Erschienen auf der Reportage-Seite.
Martina Meister