Staatsoper: Die singende Säule
"Faust“ von Charles Gounod an der Berliner Staatsoper – dirigiert von Alain Altinoglu, inszeniert von Karsten Wiegand.
Der Abend beginnt mit Staunen. Dem Staunen über die Staatskapelle Berlin. Da mag man noch so oft Unter den Linden ein und aus gehen, stets wieder wird man aufs Neue vom formidablen Klang dieses Orchesters überwältigt. Es ist eine samtige Saftigkeit, voll, warm und rund, mit Tiefenschärfe und Emotionalität, es ist der Ton einer eingeschworenen Künstlertruppe, einer Gemeinschaft von Musikern, die ihren Stolz daraus ziehen, immer mit dem Herzen bei der Sache zu sein.
Darum kann die Staatskapelle nicht nur Wagner grandios spielen, sondern sich eben auch in dessen Antipoden hineinfühlen, dem dunklen Deutschen südliche Helligkeit entgegensetzen. Alain Altinoglu, der junge französische Dirigent, der bei seinem Debüt an der Lindenoper 2006 mit „Maria Stuarda“ so überzeugend für den Belcanto Donizetti’scher Prägung geworben hatte, steht nun bei der Neuinszenierung der „Faust“-Vertonung seines Landsmannes Charles Gounod erneut im Orchester graben – und es gelingt ihm auch hier, die Klangwelt des sentimentalen Romantikers authentisch heraufzubeswören.
Weil Alain Altinoglu allerdings auch weiß, dass er mit der Staatskapelle alles anstellen kann, wenn er sie einmal für seine Sache eingenommen hat, schießt er in den dreieinhalb Aufführungsstunden auch mal übers Ziel hinaus, malt vor allem die Chorszenen des ersten Akts arg grell aus, lässt es krachen und dröhnen, wohl mit dem Ziel, hier eine Sozial groteske à la Offenbach nachzuzeichnen. Den lyrischen, den intimen Passagen der 1859 uraufgeführten Oper aber vermag er genau jenes Parfüm zu geben, das die Fans an Gounod so schätzen: ein üppiges Bouquet aus Sommerblumen, süßlich gewiss, aber nie vulgär, mit einer feinen pudrigen Note.
In Marina Poplawskaja und Charles Castronovo hat Altinoglu das ideale Protagonisten-Paar: Er ein dunkelhaariger Beau mit strahlend-biegsamem Tenor, sie eine echte singende Schau spielerin, die am Premierenabend eine schwere Grippe nicht ganz überwunden hat, weshalb die Juwelen-Arie (noch) ein Swarowski-Versprechen bleibt, die aber mit mutigen Pianissimi deutlich macht, wie wichtig ihr interpretatorische Nuancen sind. Im großen Duett des zweiten Aktes keimt wunderbar zart die Liebe zweier sensibler Seelen auf, die Stimmen verschmelzen, und Altinoglu versetzt mit der Staatskapelle Faust und sein Gretchen in einen sommernächtlichen Park, man hört den warmen Wind säuseln, Bäume rauschen – und sieht kaltes Neonlicht, ein dreietagiges Bürogebäude, blinkernde Spielautomaten.
Da steht er nun, der arme Tor, und weiß so gar nichts mit dem Stück anzufangen: Also flüchtet sich Regisseur Karsten Wiegand in Konventionen, in die alten, abgegriffenen – Herumstehen, Hände ringen, Aneinander-vorbei-Singen – und die neuen, im Bühnenalltag nicht minder heruntergekommenen – den zappelnden, prügelnden Dorfpöbel, die herzkalte, gesichtslose Masse, die traumatisiert zuckenden Soldaten, die Nutten in Kunstpelzmänteln. Hilflos und beliebig wirkt das alles, die Figuren berühren nicht, weil sie kein Leben haben. So wie diese Inszenierung keinen Ort hat und keine Zeit kennt: Modernistische Investoren architektur (Bühne: Bärbel Hohmann), wintergraue Achtziger-Jahre-Kostüme (Kostüme: Ilse Welter) – jede Oper der Musikgeschichte könnte in dieser Ausstattung spielen. Keine sollte es.
Marguerites minderjähriger VerehrerSiébel soll hier wie Bill von der Band „Tokio Hotel“ aussehen, was total in die Hose(nrolle) geht, weil keiner Silvia de la Muela gezeigt hat, wie sich ein puber tierender Junge bewegt. Der erfahrene Roman Trekel braucht zum Glück keine Hilfestellung: Er beglaubigt seinen sehr viril gesungenen Valentin mit prolligem Mackergehabe – und überraschend viel Muskeln unterm Shirt.
Marina Poplawskaja trägt die Sopranistinnen-Uniform des eurotrash – blut beflecktes Flatterhemdchen – mit Wür de, Charles Castronovo versucht mit seinen beschränkten darstellerischen Mitteln, Regieanweisungen umzusetzen. Und René Pape, der Méphistophélès? Zeigt seine Meinung zu der ganzen Chose auf radikale Weise: mit totaler Arbeitsverweigerung. Er versucht gar nicht erst, den Teufel zu spielen, weder deutsch-dämonisch noch elegant-französisch, er steht einfach auf der Bühne herum, unbeteiligt, als singende Säule. Leider schlägt sich diese Antihaltung allerdings auch vokal nieder: Selten hat man Pape so langweilig gehört, der Star des Hauses, der weltweit gefeierte Bass, der sonst Steine rühren kann mit seiner Kunst, tief in die Seelen der Figuren hineinzusehen: ein Schatten seiner selbst.
Wieder am 19., 22., 25. und 28. Februar. Dieser „Faust“ geht voll aufs Auge. Oder, um es mit den Worten des Weimarers zu sagen: „Das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis.“