Kultur: Die Sekretärin des Unsichtbaren
Letzte Fragen: Nobelpreisträger J.M. Coetzee schickt in seinem neuen Buch „Elizabeth Costello“ eine fiktive Kollegin an die moralische Front
Wie unauffällig sie wäre. Selbst wenn man wüsste, dass ihr Ruhm längst in alle Welt ausstrahlt, würde man immer noch nach einer Aura suchen, die ihrer schriftstellerischen Autorität entspricht. Denn was wäre von Elizabeth Costello zu sehen? Eine leicht zerzauste Dame in der zweiten Hälfte ihrer Sechziger, verpackt in ein blaues Kostüm, weiße Schuhe und eine Seidenjacke, das zurückgebürstete Haar fettig und das Gesicht ohne Persönlichkeit. „Eine jener großen Katzen“ in ihr zu entdecken, „die beim Ausweiden ihres Opfers innehalten und dich über den aufgerissenen Bauch hinweg mit kalten gelben Augen anstarren“ – dazu müsste man schon ihre Romane lesen können oder ihrem Sohn John vertrauen, der sich von den grausamen Einblicken seiner Mutter in Leidenschaft, Eifersucht und Sexualität immer noch erschüttern lässt.
Aber auch John ist nur Material, das J.M. Coetzee den Lesern von „Elizabeth Costello“ mit auf den Weg gegeben hat. Es verleiht seiner Titelheldin den Anschein künstlerischer Realität, als ließe er sie nicht ständig gegen einen naiven Realismus protestieren. „Wir glaubten einmal, wenn der Text sagte: ’Auf dem Tisch steht ein Glas Wasser’, dann gab es wirklich einen Tisch und ein Glas Wasser darauf“, erklärt sie in einem ihrer Vorträge, die dem Buch seine traktathaft-philosophischen Züge geben. „Wir brauchten nur in den Wort-Spiegel des Textes zu schauen, um sie zu sehen. Aber damit ist Schluss. Der Wort-Spiegel ist zerbrochen, wie es scheint, irreparabel.“ Wenn da also Elizabeth Costello steht, wer steht dahinter?
Biografie, Koketterie
Hat sich etwa J.M. Coetzee selbst in ihr porträtiert? Sogar als Gestalt aus Fleisch und Blut ist der letztjährige Literaturnobelpreisträger ähnlich ungreifbar wie Costello. Und nicht ohne Koketterie spielt er in den acht um ein Brief-Postskriptum ergänzten lessons – Lektionen, Lehrstücken, Unterweisungen – seines Buches mit Parallelen zur eigenen Biografie. Sie stammt aus Australien – er lebt dort nach dem Abschied von seiner Literaturprofessur im heimatlichen Kapstadt seit zwei Jahren. Sie hat mit einem Roman über Molly Bloom James Joyces „Ulysses“ variiert – er hat Daniel Defoes „Robinson Crusoe“ mit „Mr. Cruso, Mrs. Barton & Mr. Foe“ eine neue Lesart hinzugefügt. Costellos Sohn trägt mit John den Namen, den Coetzee hinter seinem ersten Initial verbirgt. Und der Altersunterschied – sie ist Jahrgang 1928, er Jahrgang 1940 – ist so bewusst gesetzt, dass er Coetzees Eintritt in den Lebensabschnitt der vorletzten Fragen vorwegnimmt.
Das Auffallendste ist allerdings, dass Elizabeth Costello J. M. Coetzees Sprache spricht: eine Sprache von lichter lateinischer Klarheit, aus der alles störende Gestrüpp und Wurzelwerk entfernt ist: streng, auch in der Ironie unterfüttert mit einem tödlichen Ernst und eingebettet in jenes notorische Präsens, das zum Markenzeichen von Coetzees Prosa geworden ist.
Die Trennlinie verläuft, wo Elizabeth Costello so unerbittlich moralische Ansichten hat, wie sie Coetzee niemals wagen würde. In „Das Problem des Bösen“ polemisiert sie gegen den (tatsächlich existierenden) Schriftsteller Paul West, der sich in seiner Romanfiktion „The Very Rich Hours of Count von Stauffenberg“ in ihren Augen einer Wirklichkeit bemächtigt, deren Imagination ihm nicht zusteht: der Hinrichtung der Hitler-Attentäter rund um Graf Stauffenberg.
Costellos Haupteinwand ist ungewöhnlich. Er ist die Korrektur einer Hoffnung, die der russisch-amerikanische Dichter Joseph Brodsky einmal ausgesprochen hat. „Wenn das, was wir schreiben, die Kraft hat, aus uns bessere Menschen zu machen, dann hat es gewiss auch die Kraft, uns schlechter zu machen“, behauptet Costello. Und: „Ich nehme die Behauptung ernst, dass der Künstler viel riskiert, wenn er zu verbotenen Orten vordringt – dass er insbesondere sich selbst riskiert, vielleicht alles riskiert.“
Oder der Kampf gegen die Fleischindustrie, den sie in in der zweiteiligen Lektion „Das Leben der Tiere“ führt. Mit aller argumentativen Vorsicht und Finesse zieht sie die in der moralphilosophischen Diskussion oft diskutierte Parallele zur Judenvernichtung – nicht ohne anschließend von einem jüdischen Schriftsteller bitter in die Schranken gewiesen zu werden.
Der Verdacht liegt nahe, dass sich Coetzee bei derlei Einlassungen hinter seiner Figur versteckt. Doch bevor man ihn der Bauchrednerei zeiht, müsste man zugestehen, dass auch Costellos Entschiedenheit gebrochen ist. Als sie gebeten wird, ihren eigenen Vegetarismus auf abstrakte Überzeugungen zurückzuführen, flüchtet sie ins Bekenntnis: „Er entspringt einem Verlangen, meine Seele zu retten.“ Respekt will sie dafür nicht: „Ich trage Lederschuhe“, sagt sie, „ich habe hier eine Handtasche aus Leder.“ Und auf die Frage, ob das nicht ein Unterschied sei, erklärt sie schlicht: „Verschiedene Grade der Obszönität.“ Ein Hinweis an prominenter Stelle, dass auch das Verhältnis zwischen dem, was gewöhnlich als simples Umsetzungsproblem zwischen Theorie und Praxis betrachtet wird, ziemlich verzwickt ist.
Costellos Verhältnis zu universellen Wahrheiten ist freilich nicht nur gebrochen, es ist geradezu paradox. Denn was man Coetzee 1997/98 in seinen „Tanner Lectures“ an der Princeton-Universität, aus denen dieses Buch entstand, noch als Sichunsichtbarmachen im Widerstreit der Meinungen anlasten konnte, erfährt im abschließenden Lehrstück noch eine entscheidende Wendung. „Vor dem Tor“ ist in wörtlicher Hinsicht das Herzstück des Bandes – und doch nicht das letzte Wort über die Gegenstände, die Costello bei ihren Reden vor akademischem Publikum verhandelt. Es ist eine hyperkafkaesk möblierte Parabel über Elizabeth Costellos Eintreten ins Jenseits, wo ihr eine Kommission Auskünfte über ihr moralisch-politisches Verhalten auf Erden abfordert.
Herz statt Vernunft
Ihre Rechtfertigungen gipfeln in dem Satz: „Ich habe Überzeugungen, aber ich glaube nicht an sie.“ Und: „Überzeugungen sind nicht die einzigen ethischen Stützen, die wir haben. Wir können uns auch auf unser Herz verlassen. Das ist alles. Mehr habe ich nicht zu sagen.“ Da befindet sich Costello, die sich in Anlehnung an eine Formel des polnischen Dichters Czeslaw Milosz als „Sekretärin des Unsichtbaren“ versteht, schon eine ganze Weile auf theologischem Terrain, und wer befürchtet hatte, dass das Ganze als Übung im dekonstruktivistischen Zerstäuben von Gewissheiten enden würde, wird – schweigend – eines Besseren belehrt.
Was immer man aus „Elizabeth Costello“ herauslesen mag: Von jeder Position bleibt immer etwas mehr übrig als ihre jeweilige Negation. Das ist das Irritierende an diesem Buch, das man mehrere Male lesen muss, um den Reichtum des Gedachten und seine motivischen Verspiegelungen auch nur annähernd zu begreifen. In dem, was hier an bewusstseinsphilosophischen, ethischen, anthropologischen und religiösen Problemen zusammenfließt, steht es in der zeitgenössischen Prosa einzigartig da – und dass es auch noch eine genuin literarische Antwort auf all die verhandelten Fragen sucht, macht es noch bewundernswerter.
„Elizabeth Costello“ insistiert darauf, dass es über Philosophie und Vernunft keinen privilegierten Zugang zu dem gibt, was man Wahrheit nennt. Die Erzählpassagen sind deshalb nicht nur Verzögerungen im argumentativen Diskurs, sie verankern ihn in einem Wettstreit von Interessen und Neurosen, für den gilt: Nichts ist so unrein wie das vermeintlich reine Denken. Und: Moralische Autorität kann nur aus dem Wissen um die Eingeschränktheit aller Positionen kommen. Das Buch ist deshalb nicht nur eine Untersuchung für das schriftstellerische Fachpublikum, was es heißt, als Intellektueller eine Meinung zu haben, es handelt auch davon, was es bedeutet, sich im Ausprobieren von Positionen eine Haltung zu erlesen.
„Elizabeth Costello“ ist bei alledem ein Buch, das längst über die beiden Deckel, zwischen denen es steckt, hinausgewachsen ist. Am 15. Januar hat Coetzee in der „New York Review of Books“ eine weitere Costello-Geschichte unter dem Titel „As a Woman Grows Older“ veröffentlicht (www.nybooks.com/articles/16872), und alles spricht dafür, dass sie die Figur ist, die J.M. Coetzee eines Tages sterben lassen muss, bevor er seinen eigenen Seelenfrieden findet: „Bald ist es vorbei“, flüstert Costellos Sohn John ihr einmal zu..
Zugleich lässt sich „Elizabeth Costello“ nicht ohne „Die jungen Jahre“ verstehen, den Bericht über seine Londoner Jahre mit Anfang zwanzig. „Youth“ ist der zweite Band seiner in der dritten Person geschriebenen Autobiografie, die mit der südafrikanischen Kindheit als „Ein Junge“ ihren Ausgang nahm. Kühl gehalten, unterhält sie ein nicht weniger distanziertes Verhältnis zum eigenen Lebensstoff als „Elizabeth Costello“.
Die beiden Bücher markieren die Pole eines Schriftstellerdaseins, das die offenen Möglichkeiten der Jugend als größeres Gefängnis empfindet als die schwindenden Freiheiten des Alters. Auch das ist eine der vielen Paradoxien, die einem bei der Lektüre von „Elizabeth Costello“ aufgehen: ein Buch, aus dem man klüger herauskommt, als man hineingegangen ist. Auch wenn das nicht heißt, dass man nun etwas weiß, was man auch anders hätte wissen können.
J.M. Coetzee: Elizabeth Costello. Acht Lehrstücke. Aus dem Englischen von Reinhild Böhnke. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2004. 285 Seiten, 19,90 €.
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