Summer Special der Berlinale: Die schönsten und skurrilsten Momente des Festivals
Wenn der Wind plötzlich mitspielt, die Kopfhörer leuchten und man ein liebenswertes Schrammelkino entdeckt. Wir schauen zurück auf die Sommer-Berlinale.
Rockstar
Die Mähne, der Minirock, die Mega- Stimme: Als Tina Turner in Großaufnahme auf der Leinwand erscheint, fühlt man sich für einen Moment wie in der Waldbühne. Nach einem Jahr ohne große Pop-Shows reicht schon eine Konzertszene, um Stadionatmosphäre im Freiluftkino Friedrichshain aufkommen zu lassen. Der Dokumentarfilm „Tina“ ist ein schönes Wiedersehen mit dem Rockstar, für viele auch eine Reise in die eigene Fan-Vergangenheit. Als Tina Turner am Ende „Simply the Best“ singt, stimmen sogar einige in den Reihen mit ein. Und die Sehnsucht nach echten Stadionkonzerten wächst bis in den Nachthimmel. nal
Fußball
Es scheint, als hätte sich die ganze Welt verabredet, um Alexandre Koberidzes märchenhaften Wettbewerbsbeitrag „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ zu verzaubern. Ein frischer Wind weht durch die Stuhlreihen, als sich im Film ein Gewitter anbahnt. Der Jubel der Fußballfans hallt aus der Ferne auf die Museumsinsel – Italien gegen Schweiz – , auf der Leinwand schauen sich die Bewohner des georgischen Kutaissi gerade die WM 2018 an. Fußball bedeute ihm noch mehr als das Kino, sagt Koberidze vor der Premiere und provoziert scherzhafte Buhrufe.
Eine Entscheidung für die Berlinale ist diesen Sommer schließlich auch eine gegen den Fußball. Wer damit noch hadert, wird mit einer vierminütigen Zeitlupensequenz besänftigt, in der Kinder kicken, mit glänzenden Augen, zu Gianna Nanninis WM-Hit „Un’estate italiana“. Ein magischer Kinomoment. Auch, dass irgendwann die Müdigkeit der Wochenmitte die Lider schwer macht, passt zu diesem poetischen, mäandernden Film. iba
Live aus Berlin
Für langjährige Neu-Berliner endet die Stadt gleich hinter dem S-Bahnring. Das gilt dieses Jahr auch für die Berlinale. Pandemie macht erfinderisch, auf der Suche nach Veranstaltungsorten wurde die Definition von „Kiezkino“ kreativ gedehnt. Die Studios der Berliner Union-Film befinden sich im tiefsten Tempelhof, links hinterm Flugfeld, mitten im Industriegebiet zwischen Werkstätten und einer Chemiefirma. Ein Ort Berliner Kino- und Fernsehgeschichte. Hier entstanden „Der Golem“ und „Der blaue Engel“, begrüßte Dieter Thomas Heck das Hitparade-Publikum „Live aus Berlin!“. Diese Berlinale ist auch eine Entdeckungsreise, urbanes Beach-Feeling mit Blick auf eine Brandmauer. Wer sagt, Tempelhof sei keine Reise wert? abu
Palazzo
An seinem allerersten Tag im Amt nutzt der neue italienische Botschafter Armando Varricchio die malerische Kulisse im Innenhof des rosa Palazzo, um zum Berlinale-Empfang einzuladen. Im kleinen Kreis trommelt der gebürtige Venezianer passioniert für die heimische Filmindustrie, die 2022 Partner des European Film Market sein wird. Mit dabei die Berlinale-Chefs Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, beide glücklich über die filmreife Geschichte, wie aus einem großen Risiko ein großer Erfolg werden kann.
In den Reden geht es auch um die Sehnsucht der Menschen, einander zu begegnen, und wie das Kino sie zusammenbringt. Unter neuen Vorzeichen gewiss, aber die Berlinale hat gezeigt, wie man Rituale anderen Verhältnissen so anpassen kann, dass sich alle auf vertrautem Terrain wohl fühlen. Erinnerungen werden ausgetauscht an die letzten unbeschwerten Empfänge vor der Pandemie. Der Botschafter weiß auch schon, worauf er sich an seinem zweiten Amtstag freuen kann. Da will er sich „Per Lucio“ anschauen, den Dokumentarfilm über Lucio Dalla. Gut möglich, dass die Botschaft nach diesem vorfreudigen Auftakt im Februar wieder ein belebter Treffpunkt sein wird. bi
Silent Cinema
Seit der Berlinale bin ich wieder etwas klüger. Ich weiß nun, woher das Silent Green Kulturquartier in Wedding seinen Namen hat. Bisher hatte ich naiverweise angenommen, dass Richard Fleischers dystopischer Science-Fiction-Film „Soylent Green“ als Namensgeber diente. So kann man sich irren. Als ich im Foyer des ehemaligen Krematoriums vor einer Reihe Kopfhörern stehe, dämmert mir schon, dass dies kein gewöhnlicher Kinoabend werden würde. Auf meine verdutzte Frage antwortet die junge Frau an der Ausgabe entschuldigend: „Die Kopfhörer sind wegen der Nachbarn.“
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Das Silent Green, in dem das Forum mit seinem Programm ein Zuhause gefunden hat, liegt mitten in jenem gentrifizierten Teil des Weddings, der mal als kommende Kulturmeile galt. Aber bitte nur bis 22 Uhr. Da sitzen dann also dreißig Menschen vor einem hinreißenden argentinischen Film über einen skurrilen Franzosen – aber jeder für sich. Der Ton kommt über Kopfhörer, im Silent Green ist es, nun ja, totenstill.
Ich muss an einen kurzlebigen Club-Trend aus den Neunzigern denken, die Kopfhörer-Disco. Als die Dunkelheit einbricht, schimmern dreißig grüne Leuchtdioden im Innenhof des Kulturquartiers, irgendwie auch Science-Fiction. Der neue Mensch, mit eingebautem Funkempfänger. Der Film ist ganz toll, gerne hätte man seine Begeisterung mit dem anwesenden Regisseur geteilt. Aber auch Klatschen ist nicht gestattet. Die Nachbarn. abu
Soundtrack
In der Hasenheide trommeln sie wieder. Bongo-Loops wechseln mit Frauengesängen, gar nicht weit weg. Eigentlich hatte Jonas Bak seinen Hongkong-Film „Wood and Water“ mit einem feinen Soundteppich von Brian Eno unterlegt. Jetzt, im Hasenheide-Kino, wird die von Baks Mutter gespielte Rentnerin bei ihren Gängen durch die Stadt der Regenschirmproteste vom Berliner Sommernachtsrave begleitet. Der Stille des Films kann die anbrandende Feierlaune aber nichts anhaben. Beim Vorgespräch hatte der Regisseur seine Mutter erst mit Hilfe des Publikums in Reihe acht entdecken können. Am Ende macht sie Tai- Chi im Hongkonger Park, mit einem chinesischen Doorman, ganz bei sich. chp
Schnecke
Que sera, sera, what ever will be, will be. The future’s not ours to see, que sera, sera. Diesen in zartem Sopran intonierten Song stimmt in Hong Sangsoos zauberhaftem Clip nicht Doris Day, sondern eine Schnecke an. Das poetische Weichtier, mit der der südkoreanische Filmemacher sich für den Gewinn des Silbernen Bären für das Drehbuch von „Inteurodeoksyeon“ bedankt. Ganz ohne Kinokarte auf der Festivalwebseite zu sehen. Die samt Eigenheim mit ausgestreckten Fühlern über Geröll kriechende Schnecke ist ein witziges, rührendes Bild: So neugierig, zart und tapfer soll das Kino sein. Vom Leben gar nicht zu reden. Que sera, sera, what will be, will be. gba
Schrammelkino
Ein Autohaus, ein Technoklub, ein Gemeinschaftsgarten, vollgesprayte Bahnanlagen: Am Ostkreuz lebt die typische Berliner Mischung, die an vielen anderen Orten schon geplättet wurde, ihren Traum von der dauerhaften Zwischennutzung.
Kleines Zentrum der liebenswürdigen Schrammeligkeit ist das Pompeji: ein Biergarten mit einer Bar aus Vintage-Möbeln (oder doch Sperrmüll?), im Klo Antifa- und Hertha-Sticker. Hier ist ganz Berlin noch eine Wolke. Unterm Abendhimmel öffnet sich hinter einer Tür ein Hinterhof, umstellt von abblätternden Industriemauern und vollgestellt mit temporären Plastikstühlen vor einer schmalen Leinwand.
Berlinale goes Kiez, auch unter freiem Himmel entfaltet das Konzept den Zauber des perfekt unfertigen Moments. Knabbereien werden in der Glasschüssel gereicht, die S-Bahn rauscht vorbei in die anderen Berlins, über die Leinwand huschen Visionen aus aller Welt. Davon, dass auch mal was so bleibt, wie es gerade ist. ide
Wind (1)
Wind weht, Kino weg, abgebaut in Charlottenburg. Der Zettel mit dem Hinweis zum Vorstellungsausfall ist winzig, erst übersehen wir ihn. Andere Besucher auch, man rätselt gemeinsam. Vielleicht ist die Leinwand ja diesmal hinten im Park? Schauen wir mal, mehr und mehr Ticketinhaber schließen sich dem Suchtrupp an. Am Ende wird’s eine komplette Schlossumrundung. Auch das ist Kino, ein Abendspaziergang, eine Seelenwanderung mit ungewissem Ausgang. chp
Wind (2)
Wind weht, Film läuft, seit 54 Minuten. Siehst du den Mond (fast) über Sony, im Sommerkino am Kulturforum? „Moon, 66 Questions“, die fein gesponnene Tochter-Vater-Beziehungsgeschichte der Griechin Jacqueline Lentzou, verwebt Körperchoreografien zum Gefühlsballett über Kindheitstraumata und die Entfremdung der Generationen. Gerade inspiziert Tochter Artemis die alte Hausbar des kranken Vaters, da löst die Kinocrew die Leinen und klappt die Pop-Up- Leinwand in Windeseile zusammen, mitsamt den laufenden Bildern. Grausamer Anblick: Artemis, die Göttin der Jagd, verjagt vom Wettergott Zeus. Auch eine Vater-Tochter-Geschichte. chp