Nico: Die Schmerzensreiche
Am Donnerstag wäre Nico 70 geworden. Ein Festival mit Musik, Fotos und Filmen feiert die Untergrund-Ikone.
Es fällt schwer, diese Gesichter ein und derselben Person zuzuordnen. Vor allem, wenn man bedenkt, dass nicht mal 20 Jahre zwischen den Aufnahmen liegen. Da ist zum einen das Bild eines sommersprossigen Mädchens, die blonden Haare glänzen im Gegenlicht, Augen und Mund strahlen den Schalk eines lebenslustigen Teenagers aus. Dem gegenüber das Bild einer älteren Frau mit schwarzem Umhang und strengen Gesichtszügen, die mit einem Ausdruck unsagbarer Trauer ein Weinglas an die Lippen führt.
Beide Aufnahmen aus der Ausstellung „NO more mirrors, ON more mirrors“ zeigen Christa Päffgen, berühmt geworden unter dem Künstlernamen Nico. Das ältere, um 1955 entstandene Foto stammt vom Modefotografen Herbert Tobias, der die 16-Jährige in Berlin entdeckte und ihr den Weg zur Modelkarriere ebnete. Als sein Kollege Willy Maywald sie 1972 in seinem Pariser Studio fotografierte, war aus Christa Päffgen längst die kultisch verehrte Nico geworden. Der künstlerisch ergiebigste Teil ihrer Laufbahn lag da bereits hinter ihr.
Man weiß erstaunlich wenig über Nicos Modeljahre, auch wenn Zeitdokumente wie Titelbilder internationaler Modemagazine, Plattencover oder ihr Auftritt in Federico Fellinis High-Society-Hommage „La dolce vita“ wenig Zweifel an ihrem Status als einer Art Claudia Schiffer der späten Fünfziger lassen. Auch „NO more mirrors, ON more mirrors“ betreibt keine biografische Aufklärungsarbeit, sondern nähert sich Nico in einer Mischung aus Huldigung und sanfter Mythendekonstruktion. Denn neben den überwiegend aus ihren Mannequin-Tagen stammenden Fotos, Ausschnitten aus Werbefilmen sowie den obligatorischen Artefakten ihrer Zeit mit Velvet Underground finden sich eher beiläufig präsentierte Briefe und Postkarten an ihren einstigen Lebensgefährten, den Berliner Musiker Lutz „Lüül“ Ulbrich. Ulbrich hatte Nico 1972 in Paris kennengelernt und blieb ihr nach dem Bruch der Beziehung freundschaftlich verbunden. Die Briefe stammen aus Nicos letztem Lebensdrittel, der Phase also, die gemeinhin mit dem kreativen Dahinsiechen der langjährigen Heroinkonsumentin assoziiert wird. Hier jedoch findet man neben Zeilen, die tatsächlich auf einen verdüsterten Gemütszustand hindeuten („es gibt für mich wie immer eine Pechsträhne“), auch in schwungvoller Handschrift zu Papier gebrachte Passagen, die Selbstironie und Wortwitz bezeugen und nicht zum Klischee der an ihrem Weltschmerz verzweifelnden Künstlerin passen wollen.
Ein unvoreingenommener Blick auf die Musikerin Nico ist fast unmöglich, denn um keinen deutschen Popstar rankt sich ein dichteres Geflecht aus Legenden, Halbwahrheiten, Spekulationen und verschwommenen Erinnerungen. Rückblickend scheint ihre Popkarriere eher ein Zufallsprodukt gewesen zu sein. Nachdem sie sich Anfang der Sechziger als Schauspielerin ausprobiert hatte, fühlte sie sich von der Atmosphäre des „Swinging London“ zur Musik hingezogen und nahm auf Veranlassung des Stones-Managers Andrew Loog Oldham eine Single auf. Der harmlose Folkpop von „I’m not sayin‘“ war indes nur Vorgeplänkel, erst in New York nahm Nicos Laufbahn eine entscheidende Wendung. Karrierefördernd dürften dabei ihre Affären mit diversen Alphatieren des Pop-Jetsets wie Jimmy Page, Brian Jones oder Jim Morrison gewesen sein.
Bob Dylan stellte Nico Andy Warhol vor, der sie zur Sängerin der von ihm protegierten Avantgarde-Band The Velvet Underground machen wollte – zum Missvergnügen des ehrgeizigen Lou Reed. Als Kompromiss sang Nico nur drei Songs auf der legendären LP mit dem Bananen-Cover – genug, um zum Langzeit-Mythos zu werden. Denn ihre dunkle Intonation mit schwerem teutonischem Akzent verlieh den Balladen „I’ll be your Mirror“, „Femme Fatale“ und „All Tomorrow’s Parties“ eine Aura sakralen Ernstes, die mit dem autistischen Remmidemmi-Rock der Rest-Velvets den unverwechselbaren Charakter dieses Anti-Flower-Power-Meisterwerks prägte. Für ihr kurz nach der unvermeidlichen Trennung von Velvet Underground veröffentlichtes Solodebüt „Chelsea Girl“ arbeitete sich Nico nochmals an konventionellem Songmaterial ab, ehe sie unter Mitwirkung von John Cale zwei Platten aufnahm, die ihren extravaganten Ruf endgültig festlegten. Auf „The Marble Index“ und „Desertshore“ deklamierte die „Sphinx aus Eis“ (Werner Fritsch) mit monotoner, jedoch ausdrucksstarker und nuancenreicher Altstimme abstrakte Kunstlieder, die mehr mit Zwölftonmusik und liturgischen Gesängen als mit Popmusik zu tun hatten.
Zwischen 1967 und 1970 hat Nico mit diesen drei Alben genauso viele Platten aufgenommen wie in den verbleibenden 18 Jahren ihres Lebens. Selbst die Stagnation, die sich auch in prekären finanziellen Lebensverhältnissen und zunehmend unberechenbaren Liveauftritten spiegelte, festigte Nicos Ruf, konnte sie doch als Verweigerungshaltung einer autarken Künstlerin gelesen werden, die eine neue Musikergeneration seit den späten Siebzigern zur Patin ihrer morbiden Gothic- und New-Wave-Klangkunst erkoren hatte. Kommerziell nutzen konnte Nico ihren Ruhm zu keinem Zeitpunkt, was angesichts der Kompromisslosigkeit noch ihrer letzten Aufnahmen kaum verwundert. 1988 starb sie auf Ibiza unter nicht völlig geklärten Umständen an den Folgen einer Hirnblutung.
Jörg W, er
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