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Mads Mikkelsen als Kindergärtner Lucas. Geschickt spielt der Film mit dem Image des dänischen Weltstars, der sich als Actionstar und Bad Guy unter anderem in Bond-Filmen einen Namen gemacht hat, aber auch den sympathischen Softie geben kann.
© Wild Bunch Germany

Thomas Vinterbergs Film "Die Jagd": Die Sache mit dem Missbrauch

Vor 15 Jahren machte Dogma-Regisseur Thomas Vinterberg mit einem Inzest-Drama Furore. In seinem neuen Film "Die Jagd" geht es erneut um Missbrauch - ein spannendes, aber zweifelhaftes Selbstjustizdrama.

Mitten in die Geburtstagsfeier platzt die Enthüllung des Sohnes, der Vater habe seine Kinder missbraucht. Das Fest als Fanal, Tatort Familie: Während die Lebenslügen der gutbürgerlichen Gesellschaft ihre giftige Wirkung entfalten, bricht das Verdrängte sich Bahn, auch mit Gewalt. Es war ein Schock, damals vor 15 Jahren. Lange vor den Missbrauchsdebatten, die neuerdings nicht nur die Bundesrepublik erschüttern, kam „Das Fest“ von Thomas Vinterberg in die Kinos, der erste dänische Dogma-Film.

Weg mit den Illusionen, raus mit der Wahrheit. Darum ging es, als Vinterberg, Lars von Trier und zwei weitere Dänen zum 100. Geburtstag des Kinos ihr Dogma-Manifest verabschiedeten. Sie schickten den Film in die Schule des Realismus, ähnlich wie einst in Frankreich die Nouvelle Vague oder in Deutschland die Unterzeichner des Oberhausener Manifests. Erlaubt waren ausschließlich Originalschauplätze, Originalton, Originallicht und Handkamera, Starkult galt als verpönt, der Name des Regisseurs tauchte im Vor- und Abspann nicht auf. Auch das ein heilsamer Schock, eine Frischzellenkur für den alternden europäischen Autorenfilm. Mit Regisseuren wie von Trier und Susanne Bier hat sie Dänemark einen Platz in der Liste der kleinen, aufregenden, mit Festivalpreisen und Oscars ausgezeichneten Filmkunstländer gesichert. „Das Fest“ von 1997 machte jedenfalls gleich doppelt Furore: Zur Wucht des Sujets gesellte sich die gnadenlos direkte Erzählweise.

Folgt mit „Die Jagd“ nun Schock Nummer drei? Nach der Opfertragödie über Trauma und Verdrängung – und einigen glücklosen, teils internationalen Produktionen („It’s all about Love“, „Dear Wendy“, „Submarino“) – ist der mittlerweile 43-jährige Regisseur ins dänische Kino zurückgekehrt. In seinem siebten Film zeigt er die Kehrseite der Medaille: den Hass und die Hatz auf einen zu Unrecht verdächtigten Täter. Nicht unter Einhaltung der Dogma-Gebote (zum Beispiel sind Waffen im Spiel, was das Manifest nicht erlaubt), aber mit großer Wirklichkeitsnähe. Ein Kinderpsychologe hatte Vinterberg nach „Das Fest“ Protokolle solcher Fälle in die Hand gedrückt, die jener erst zehn Jahre später las. 2012 feierte „Die Jagd“ in Cannes Premiere.

Lucas (Mads Mikkelsen) arbeitet als Kindergärtner in einer Kleinstadt. Ein freundlicher, aufmerksamer Erzieher, die Ehe geschieden, er kämpft um das Besuchsrecht für seinen jugendlichen Sohn. Die kleine Klara (Annika Wedderkopp), Tochter seines besten Freunds Theo (Thomas Bo Larsen), hängt sich an ihn, auch sie ein einsames Menschenkind, da die Eltern beruflich sehr eingespannt sind. Lucas weist sie behutsam in ihre Schranken, offenbar weiß er genau, wie schnell der Verdacht der Päderastie auf männliche Erzieher fallen kann. Das gekränkte Mädchen will sich rächen und erzählt der Leiterin des Kindergartens, Lucas habe ihr seinen Penis gezeigt. Seit sie den Bruder mit seinen Kumpels beim Pornogucken beobachtete, weiß sie vage, das ist was Schlimmes. Die besorgte Leiterin zieht einen Psychologen hinzu, der Klara befragt und ihre Verunsicherung völlig falsch deutet.

Gerüchte machen die Runde, Ängste verwandeln sich in Panik, in Hysterie. Lucas wird festgenommen, wieder freigelassen und von der liberalen Kleinstadtgesellschaft fortan geächtet. An Heiligabend sitzt er tränenüberströmt in der Kirche, mutterseelenallein in einer verschworenen, politisch-pädagogisch korrekten Gemeinschaft. Ein Ausgestoßener, ein Selbstjustizopfer, das Gift des Misstrauens zersetzt sein Leben. Es zerstört seine berufliche Existenz, seine Freundschaften, die sich anbahnende neue Liebe zur Aushilfs-Erzieherin. Nicht mal sein Sohn weiß, ob er noch zu ihm halten kann. Im Herbst darauf geht Lucas mit den alten Freunden wieder auf die Jagd, aber es ist noch lange nicht vorbei ...

Ein Genrefilm über eine Hexenjagd also, mit Dänemarks Weltstar Mads Mikkelsen in der Hauptrolle des unschuldig verfolgten Erziehers. Geschickt spielt Vinterberg mit dem Image von Mikkelsen, der als Actiondarsteller und bad guy Karriere gemacht hat; fürs amerikanische Fernsehen spielt er demnächst den monströsen Serienkiller Hannibal Lecter. Gleichzeitig wird er in seiner Heimat immer wieder zum sexiest man alive gewählt. In „Die Jagd“ tritt er als einfühlsamsympathischer Softie auf, der gleichwohl mit virilen Attributen ausgestattet ist, mit dem Jagdgewehr umzugehen weiß und beim Schnapstrinken problemlos mithalten kann. Ein Kerl mit so einer Visage könnte ein toller Pädagoge sein, wenn nicht jeder in ihm gleich einen Kinderschänder vermutete – so die Logik dieser schillernden Charakterzeichnung.

Aber je länger das Verhängnis seinen Lauf nimmt, desto mehr wächst das Unbehagen beim Zuschauer. Die Mischung aus Genreformat und dokumentarischer Unmittelbarkeit nach Dogma-Manier lädt das hochsensible Sujet effekthascherisch auf und lässt das Verhalten der Pädagogen, Eltern, Psychologen zunehmend unglaubwürdig erscheinen. Ja, Kinder lügen nicht. Aber wer sie kennt – was bei Erziehern meistens der Fall ist –, kennt auch ihre Fantasiewelt, ihre Schwächen, ihre Beweggründe, zum Beispiel Klaras familiäre Situation und ihr Bedürfnis nach Aufmerksamkeit. Kinderpsychologen wiederum setzen die Wahrheit wie ein Puzzle zusammen, lassen die möglicherweise betroffenen Kinder spielen oder malen und stellen nicht bloß suggestive Fragen wie der Psychologe im Film.

Das Thema Missbrauch hat Konjunktur - und ist dennoch keineswegs eine Modeerscheinung.

Klara (Annika Wedderkopp) hängt sich im Kindergarten an Lucas, zu Hause fühlt sie sich oft allein gelassen.
Klara (Annika Wedderkopp) hängt sich im Kindergarten an Lucas, zu Hause fühlt sie sich oft allein gelassen.
© Wild Bunch Germany

„Die Jagd“ ist ein Spielfilm, eine Fiktion. Aber Vinterberg setzt auf Realismus, auf Wahrscheinlichkeit, deshalb geht seine Rechnung nicht auf. So viele Erwachsene, die so viele Fehler machen, man glaubt es nicht. Erst recht nicht die Kettenreaktion auf den fürsorglichen Reflex, mit dem jeder zu wissen meint, was Klara widerfahren ist, obwohl sie bald beteuert, sie habe nur etwas Dummes gesagt. Außerdem versäumt Vinterberg es, die Dimension zu verdeutlichen. Gewiss gibt es tragische Fälle von zu Unrecht Beschuldigten, aber es handelt sich nicht um den großen blinden Fleck in der Wahrnehmung sexueller Gewalt gegen Kinder, sondern um seltene Ausnahmen. Die Regel ist immer noch das schützende Schweigen rund um die Täter, in Familien, in der Kirche, Kindergärten, Schulen, Sportvereinen.

Das Thema Missbrauch macht Schlagzeilen – und ist dennoch keine Modeerscheinung. Die nachhaltige Debatte, die Jesuitenpater Klaus Mertes 2010 mit der Veröffentlichung von Missbrauchsfällen im Berliner Canisius-Kolleg auslöste, die Berichte über Päderasten unter den Reformpädagogen in der Odenwaldschule, der runde Tisch zur Aufarbeitung, die weltweiten Skandale der katholischen Kirche, all das findet auch seinen Niederschlag in Film und Fernsehen. Bernd Eichingers letztes Projekt „Natascha Kampusch“ wurde posthum realisiert; kaum ein „Tatort“, in dem es mal nicht um Inzest, Kinderpornografie oder Zwangsprostitution Minderjähriger geht, von den skandinavischen Krimis zu schweigen.

Nichts gegen Popularisierung, sie kann helfen, Tabus und Schweigekartelle zu brechen. Aber wozu dienen die Mitleid erregenden „Jagd“-Bilder? Lucas wird aus dem Supermarkt geprügelt und kehrt blutüberströmt zurück: Mads Mikkelsen als Märtyrer eines bigotten juste milieu, am Ende gar als Freiwild? Vinterberg wuchs in einer Kopenhagener Akademiker-Kommune auf, arbeitet er sich an den Ideologismen seiner Kindheitswelt ab? Oder will er sagen, Männer, lasst die Finger von solchen „Frauenberufen“? Wäre unsere Gesellschaft opferfixiert, könnte ein derart drastischer Gegenplot einmal nicht schaden. Aber so ist es nicht.

Thomas Vinterberg muss jedenfalls schon sehr an seiner Story herumschrauben, um solch spekulative Szenen zu konstruieren. Mit „Das Fest“ hat er einen der besten Filme über Missbrauch und Verdrängung gedreht, lange bevor das Thema Konjunktur hatte. Diesmal betreibt er Missbrauch des Missbrauchs.

Ab Donnerstag in 9 Berliner Kinos. OmU: Hackesche Höfe, Rollberg

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