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Harter Mann. Spencer Tracy im Western „Nordwest Passage“ (1939).
© Kinemathek

Berlinale 2020: Die Retrospektive im Überblick

Ein Rebell, der sich an die Regeln hielt: Die Retrospektive ist dem Hollywood-Meisterregisseur King Vidor gewidmet.

Sie gehört zu den bösesten Biestern der Filmgeschichte. Rosa Molina, von Bette Davis mit schwarzgefärbten Haaren verkörpert, beklaut ihren Ehemann, verpasst dem Liebhaber Ohrfeigen und haut Sottisen heraus wie ein Schnellfeuergewehr.

„Ich mag es, wenn die Menschen mich nicht mögen“, sagt sie. „Ich will nicht zu ihnen gehören.“ Wie Madame Bovary ist sie nicht fürs Provinzleben geschaffen, aber doch dazu verurteilt. Dem Zug nach Chicago, der zweimal am Tag durch ihr Städtchen kommt, schaut sie sehnsüchtig hinterher.

Ihr Stoßseufzer „What a dump“, was für ein Loch, wurde zum geflügelten Wort. Edward Albee zitiert es in seinem Ehehöllendrama „Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“.

Wenn die Heldin von King Vidors Film noir „Beyond the Forest“ (1945) am Anfang aus purer Langeweile einen Waschbären erschießt, ist klar, dass sie am Ende mit demselben Gewehr einen Menschen töten wird. Die Frage ist nur: welchen?

Zwanzig Jahre später wäre eine Nonkonformistin wie sie als Rebellin gefeiert worden, doch im ohnehin misogynen Genre des hardboiled Thrillers ist das Schicksal einer fatalen Frau vorbestimmt. Sie muss sterben, um den Weg fürs Happy End freizumachen.

Heimtückische Frau. Bette Davis im Film noir „Beyond The Forest“ (1945).
Heimtückische Frau. Bette Davis im Film noir „Beyond The Forest“ (1945).
© Kinemathek

King Vidor, dem die Berlinale eine Retrospektive mit 35 Werken widmet, stellte immer wieder Frauen ins Zentrum seiner Filme, die nicht ins Rollenmuster ihrer Zeit passen.

Sie handeln, während die Männer bloß reagieren. Das gilt auch für Rosa Molina, die in ihre Gemeinheit so sehr schillert, dass alle Figuren um sie herum blass und bieder wirken.

Der Regisseur, der 1894 in Texas geboren wurde und 1982 in Kalifornien starb, setzte in allen Genres künstlerische wie technische Maßstäbe, von der Komödie („Show People“) über Western („Duell in der Sonne“) bis zur Literaturadaption („Krieg und Frieden“).

Seine sechs Jahrzehnte umfassende Karriere reichte von der Stummfilm- bis zur Cinemascope-Ära.

Scharfer Blick für Klassenunterschiede

Der Sohn einer ungarischen Einwandererfamilie hatte zunächst als Kameramann gearbeitet und dokumentarische Kurzfilme gedreht. Vielleicht behielt er auch in seinen Spielfilmen deshalb ein Gespür für soziale Verhältnisse und den scharfen Blick auf Klassenunterschiede.

Wenn es in seiner zum Melodram kippenden Screwball-Komödie „The Wedding Night“ (1935) ein New Yorker Millionärspaar nach Connecticut verschlägt, ist en passant auch der harte Arbeitsalltag der Tabakbauern zu sehen.

Einen irrwitzigeren Heiratsantrag als den, den Gary Cooper dort Anna Sten macht, gibt es wohl in der gesamten Kinogeschichte nicht. Und selbst eine hölzerne Romanverfilmung wie „The Citadel“ (1938), die einem Grubenarzt ein Denkmal setzt, führt tief hinein ins Elend walisischer Bergarbeiter, deren Familien wegen katastrophaler hygienischer Umstände von der Tuberkulose hinweggerafft werden.

Galt als Handwerker nicht als Auteur

Weil er bei allen Innovationen nicht mit den Regeln des Studiosystems brach, galt Vidor lange eher als Handwerker denn als Auteur.

Einen Oscar, für den er fünf Mal nominiert war, bekam er erst 1979 fürs Lebenswerk.

Vidor bedankte sich sarkastisch: Durchzuhalten lohne sich. Als „Classics“ präsentiert die Berlinale fünf weitere alte Filme, darunter „Ein Fisch namens Wanda“, Fellinis „Schwindler“ und Alfréd Radoks Theresienstadt-Drama „Der weite Weg“.

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