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Im politischen Widerstand vereint. Der Schriftsteller Heinrich Böll (l) und der Philosoph Theodor Adorno hören am 28.5.1968 bei einer Veranstaltung gegen die Notstandsgesetzgebung im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks in Frankfurt am Main.
© picture-alliance / dpa

Bundesdeutsche Ideengeschichte: Die Noblen, die Fiesen und die Unverbesserlichen

Der Historiker Axel Schildt schreibt die Geschichte der Medien-Intellektuellen in der Bundesrepublik.

"Grüßen Sie übrigens bitte Moras, den alten Kampfgefährten.“ So schrieb man einander von Publizist zu Publizist, fast genau ein Jahr vor Gründung der Bundesrepublik, im Mai 1948. Man kannte sich, die alten Netzwerke reichten in die 1930er und 1940er Jahre zurück. Der hier den Hut zog, sollte im November 1949 zu den Gründungsherausgebern der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ gehören, dort verantwortlich für das Feuilleton: Karl Korn.

Korn ist einer der vielen „Medien-Intellektuellen“ aus der zweiten und dritten Reihe, die man heute kaum noch kennt. Und doch ist gerade ihr Wirken entscheidend, will man die Öffentlichkeit der Bonner Republik verstehen. Der Hamburger Historiker Axel Schildt widmet ihnen sein Opus Magnum: „Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik“. 2021 hätte es erscheinen sollen, jetzt liegt es bereits in diesem Herbst vor. Denn Axel Schildt hat es zu Lebzeiten nicht mehr fertigstellen können.

Seit 2010 hat er daran gearbeitet, in 28 Archiven über 100 Nachlässe gesichtet, dazu Redaktions- und Institutsarchive. Als er im April 2019 starb, fehlten noch das Kapitel über die 1970er und 1980er Jahre und der Ausblick auf die Berliner Republik. Auch das Kapitel über die „Intellektuellen in der Transformation der ‚langen 60er Jahre’“ ist Fragment geblieben. Einleitung und Inhaltsverzeichnis vermitteln einen Eindruck davon, was noch hätte kommen sollen.

Was jetzt auf knapp 1000 Seiten vorliegt, ist dennoch stupend: eine „dichte Beschreibung“ intellektuellen Wirkens, so kenntnisreich wie konzise, so vielschichtig wie klar. Werden die großen Auseinandersetzungen, wie Schildt weiß, nämlich oft im Kleinen ausgetragen, will auch das Misstrauen, mit dem die Geschichtswissenschaft der Anekdote traditionell begegnet, überdacht sein.

Erkenntnis und Vergnügen

Für die Leserinnen und Leser ist das ein doppelter Gewinn: an Erkenntnis und Vergnügen. In den Text haben die beiden Herausgeber, denen Axel Schildt die Redaktion anvertraut hat, nur geringfügig eingriffen. Sie haben klug entschieden, die Lücken zu markieren, nicht Vollständigkeit vorzutäuschen.

[Axel Schildt:Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik. Hrsg. von Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried. Wallstein Verlag, Göttingen 2020. 896 S., 46 €.]

Wie es gelang, nach 1945 das Gespräch neu einzuüben, beleuchtet das längste Kapitel. Die Frage zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch. „Sind die Deutschen Westeuropäer?“ Das wollte Karl Korn zu Weihnachten 1951 wissen.

Die „FAZ“- Umfrage unter Intellektuellen brachte erstaunliche Antworten: Der Romanist Ernst Robert Curtius bezweifelte, dass es „die Deutschen“ gäbe, der Soziologe Alfred Weber hielt es für eine politische Entscheidung. Und Korns alte Bekannte, Margret Boveri wurde zornig. Wie dumm eine Redaktion doch sei, die der „hypnotischen Wirkung des Eisernen Vorhangs“ verfalle!

Einigen der unverbesserlichen Rechten, die einfach so oder ähnlich weiterschreiben wollten, stellte Korn bitterböse Zeugnisse aus: In Ernst von Salomons „Fragebogen“ – Alliiertenbeschimpfung als autobiografischer Roman, zugleich ein früher Rowohlt-Bestseller –, konnte Korn nur die „Geschichte eines verpfuschten Lebens“ erkennen: „Bilanz Katzenjammer“! Zwei Jahre später, 1953, protegierte er den jungen Jürgen Habermas.

Heidegger, verärgert

Dieser, noch keine 25 Jahre alt, fragte in seiner Besprechung der gerade erschienen Vorlesungen Martin Heideggers aus dem Jahr 1935, warum nicht einmal die Eloge auf den Nationalsozialismus gestrichen worden sei. Die „Zeit“, damals noch national-konservativ, griff Habermas persönlich an. Korn legte nach: „Warum schweigt Heidegger?“, fragte er und verärgerte damit nicht nur den Daseins-Philosophen.

Korn lobte, anders als sein Antipode Friedrich Sieburg, vieles, was von den Jüngeren aus dem Umkreis der Gruppe 47 kam. Auch für Wolfgang Koeppens kritisch beäugten Politroman „Treibhaus“ fand er anerkennende Worte, erwog sogar einen Vorabdruck, wie Schildt rekonstruiert. Mit dem Remigranten Theodor W. Adorno verstand Korn sich gut. Post trudelte aus der ganzen Bundesrepublik ein – und sogar aus dem Ostseebad Ahrenshoop, dem Erholungsort vieler DDR-Intellektuellen.

Seine eher liberale Literaturpolitik brachte Korn Kritik und Ärger ein, auch der Alt-Nazis, die ihn als Wendehals beschimpften und seine NS-Vergangenheit ausgruben. Korn hätte sie, wie die meisten Publizisten, lieber verheimlicht. „Dichte Beschreibung“ heißt: dass man alle Fäden weiterziehen könnte. Während Habermas gegen Heidegger anlief, bot der „Merkur“ diesem ehrerbietig ein Forum: Der gerade noch mit Publikations- und Lehrverbot belegte Philosoph durfte dort die Frage „Was heißt denken?“ beantworten.

Dafür stellte ausgerechnet Adorno, dessen Wirken um die Frage kreiste, wie der autoritäre Charakter fortwirkte, Korn brieflich ein glänzendes Charakterzeugnis aus, als seine nationalsozialistischen Verstrickungen ans Licht kamen. Er nannte ihn einen „bis ins Innerste anständigen Menschen“. Korn wiederum begrüßte den liberalen Umschwung bei der „Zeit“ nur im Stillen, während Konrad Adenauer die Gräfin Dönhoff rasch zum Gespräch einlud. Und der „Merkur“ hielt es nicht nur mit Heidegger, sondern auch mit Habermas, dessen Doktorarbeit 1954 sogar im Heft angezeigt wurde.

Kurvenreiche Wege

Zeitschriftenbeiträge und Briefe sind eine zentrale Quelle für Schildt. Nicht, weil sie zwingend von bleibender intellektueller Kraft wären, sondern weil sich an ihrem Beispiel nachvollziehen lässt, wie kurvenreich intellektuelle Wege sein konnten. Halböffentliche Formen ergänzen die veröffentlichten Reden und Schriften.

Aus dem Material beziehen die „Medien-Intellektuellen“ auch Position in den großen Gründungsdebatten: Steht die Bundesrepublik im Zeichen der Frankfurter Schule, wie Clemens Albrecht und Kollegen vorschlugen? Oder ist ihr intellektuelles Fundament liberalkonservativ, wie Jens Hacke dagegenhielt?

Schildt gewichtet behutsam: Auch wenn man Adorno in den 1950er Jahren fast jede Woche im Radio hören konnte, gehe die These von einer „Rundfunkhoheit“ der Kritischen Theoretiker zu weit, die von einer politisch-kulturellen Hegemonie erst recht. Bis in die späten 1950er Jahre wurde Adorno zumeist als Musikkritiker und ästhetischer Theoretiker gebucht.

Erst um die Wende zu den 1960er Jahren kam es zu jenem politischen Hype, der bis heute mit seinem Namen verbunden ist. Noch immer sieht man die „Minima Moralia“ oder die „Negative Dialektik“ aus Blazern und Jeans als politische Accessoires herauslugen.

Pluralismus lebt nicht nur von Intellektuellen

Für den liberalen Kern der jungen Bundesrepublik zeichnen, so differenziert Schildt auf der Gegenseite, nicht allein die Liberalen und Liberalkonservativen verantwortlich. Zwar wirkte der Münsteraner Kreis um den Philosophen Joachim Ritter prägend auf junge Intellektuelle, deren Stimmen später wichtig wurden.

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Dennoch sollte dessen Reichweite nicht überschätzt werden, schließlich war der Zirkel zeitgenössisch vor allem Kennern des philosophischen Betriebs bekannt. Intellektuelle Debatten allein machen eben noch keine pluralistische Gesellschaft.

Schildt verfolgt beide Spuren, die im Titel „Medien-Intellektuelle“ liegen, wie sie sich verstärken, kreuzen, torpedieren: die mediale Öffentlichkeit und die Intellektualität. So kann das tiefe Denken oder das solitäre Über-den-Dingen-stehen eine Maske sein, die weder zu den Thesen noch zu den Handlungen passt. In der jungen Bundesrepublik setzten die alten konservativen Intellektuellen diese oft auf, während sie eifrig neue publizistische Netzwerke knüpften und Deutungshoheit erkämpften.

Nonkonform gaben sich eher die Jüngeren. Dolf Sternberger sah da schon ein neues Gespenst umgehen. Seine Gestalten, offene und verhüllte, rekonstruiert der Abschnitt über die „Politisierung des Nonkonformismus“. Den Herausgebern des Opus Magnum kann man nur zustimmen, wenn sie im Nachwort Axel Schildts Haltung als Forscher bestimmen: „die zweite deutsche Demokratie im Hinblick auf ihre problemhaltigen Konstituenten und Gefahren zu verstehen“.

Hendrikje Schauer

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