Gefängnisarchitektur: Die neue Menschlichkeit
Wie baut man Gefängnisse? Berlins neue Haftanstalt Heidering steht für einen Wandel in der Architektur des Strafvollzugs. Ziel ist nicht mehr die gebrochene Kreatur. Sondern die Sozialisierung derer, die noch nie sozialisiert waren.
Die fensterlose Zelle war nur 1,80 Meter hoch, der Insasse war sieben Zentimeter größer. Frischluft gab es nur durch ein kleines Gitter in der Tür, im Sommer herrschten unter dem Bleidach unerträgliche Temperaturen. Vier Stockwerke tiefer, in den häufig überschwemmten Kellerverliesen des Dogenpalastes, waren die Verhältnisse nicht besser. Was Giacomo Casanova, der berühmteste Gefangene des venezianischen Palasts, nach seiner geglückten Flucht 1787 zu Papier brachte, sind Haftbedingungen, die einzig der sicheren Verwahrung der Gefangenen dienten. Sie sollten ihre Missetaten durch alle erdenklichen Strafen büßen, durch Entzug der Bewegungsfreiheit und der Würde, Verweigerung sozialer Kontakte, Psychoterror und körperliche Züchtigung.
Nicht selten endete der dem Racheprinzip folgende Strafvollzug in früheren Zeiten mit dem Tod der Häftlinge durch lebensfeindliche Haftbedingungen. Und wer frei kam, sollte als gebrochene, durch den Schrecken des Erlebten geängstigte Kreatur künftig ein fügsames Leben führen. In vielen Ländern der Welt wird diese Methode bis heute praktiziert.
Erst mit den Reformbewegungen im 19. Jahrhundert wurde der Strafvollzug nach rechtlichen Normen geregelt und systematisiert, mit Abstrichen auch humanisiert. In dieser Zeit entstanden auch neue Typen des Gefängnisbaus. In den USA benötigte man für das solitary system der strengen Isolation und das silent system mit absolutem Kommunikationsverbot eigens entwickelte Architekturen. Das Panoptikum etwa, ein mehrgeschossiger Rundbau mit nach innen nur vergitterten Zellen ringsum. Entworfen hat es der englische Philosoph Jeremy Bentham – wie Michel Foucault in „Überwachen und Strafen“ beschrieben hat. Die Gefangenen mussten jederzeit damit rechen, von der zentralen Warte im Lichthof überwacht zu werden, konnten aber nie wissen, wann.
Ähnlich effektiv: der strahlenförmig angeordnete Bau, bei dem man vom Mittelpunkt aus alle Flure der radialen Zellentrakte kontrolliert. In Moabit zum Beispiel ist dieses Organisationsprinzip 1848 realisiert worden, nachdem Friedrich Wilhelm IV. es in London Pentonville gesehen hatte.
Die Gefängnisarchitektur des 20. Jahrhunderts ist geprägt durch pragmatische, Personal sparende Bauweisen und das Streben nach maximaler Ausbruchsicherheit. Gitterfenster, überhohe Mauern mit Stacheldrahtkrone, Flutlicht- und Kameramasten bestimmen das Bild. In „Hochsicherheitsgefängnissen“ wie dem RAF-Gefängnis in Stuttgart-Stammheim kulminierte eine Entwicklung, die Sicherheit auch nach außen gewährleisten musste – und in aller Hässlichkeit demonstrierte. Gefängnisse wurden zu architektonischen Unorten, wie Kernkraftwerke und Müllsortieranlagen. Dabei wird repressive Architektur immer als Teil der Strafe verstanden. Das ist schon daran ersichtlich, dass man bei Einrichtungen zur Sicherheitsverwahrung, die nicht der Bestrafung dienen, das Gefängnisgefühl möglichst vermeidet. Die Forensische Psychiatrie der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik in Reinickendorf zum Beispiel, 1987 von Ganz und Rolfes erbaut, sieht nicht aus wie ein Gefängnis. Sie ist ausbruchssicher, bietet den Insassen aber ein wohnliches Ambiente. Dort werden Menschen zum Teil lebenslänglich „weggesperrt“, die nicht strafmündig sind, aber als gemeingefährlich gelten. Ähnlich die Vollzugsanstalt für Freigänger in Zehlendorf-Düppel, ein Backsteinbau, der nicht unbedingt als Gefängnis zu erkennen ist.
Erst der moderne Strafvollzug, bei dem die Resozialisierung der Straftäter gegenüber dem Sicherheitsbedürfnis der Allgemeinheit den Vorrang hat, rückt Begriffe wie „human“ und „menschenwürdig“ in den Vordergrund. So kommt es, dass die neue Berliner Justizvollzugsanstalt in Heidering, einer Eisenbahn-Wendeschleife bei Großbeeren, als freundlich und lichtdurchflutet beschrieben wird. Mancher wähnt gar zu viel Luxus. „Wären nicht die Gitter, die verschiedenfarbigen Häuser könnte ein Studentenwohnheim sein“, so ein typischer Kommentar.
In Norwegen steht das humanste Gefängnis der Welt
„Das Wichtigste in einem Gefängnis ist, die Menschen nicht aus ihrer sozialen Einbindung herauszureißen. Es sollte also keine Resozialisierung, sondern vor allem Sozialisierung stattfinden“, sagt der Architekt des Gefängnisses, der Grazer Josef Hohensinn. Er legt damit den Finger in die Wunde. Die meisten Insassen waren nie sozialisiert, also kann man sie auch nicht re-sozialisieren. Hohensinn möchte die Gefangenen durch die Gestaltung ihres zwangsweise zugewiesenen Lebensumfelds mit Anstand und Würde behandeln. Nach Paragraf 3 des Strafvollzugsgesetzes sollen „Verhältnisse in der JVA, so weit es geht, den Verhältnissen der Außenwelt angeglichen werden“. Es geht also darum, den Gefangenen möglichst viel Normalität zu bieten, um sie auf das Leben draußen vorzubereiten. Die Knast-Ikonografie mit vergitterten Fenstern und martialischem, vielfach gesichertem Doppelzaun ist Einschränkung genug.
Man könnte freilich noch weiter gehen. Im norwegischen Halden steht das humanste Gefängnis der Welt: eine Art ummauertes Dorf, in dem sich die 250 Gefangenen frei bewegen können. Sie wohnen in Blockhütten mit unvergitterten Fenstern und verfügen über vielfältige Freizeitmöglichkeiten. Die norwegische Rückfallquote von nur 20 Prozent hat freilich ihren Preis: Halden war pro Insasse 42 mal so teuer wie Heidering. Auch in Holland gibt es ein Vorzeigegefängnis, die in einem Waldgrundstück liegende Jugendstrafanstalt in Overloon. Anspruchsvoll architektonisch gestaltet, hat sie fast Hotelcharakter, etwa bei der Lounge mit Panoramafenster. Die JVA Heidering wird niemand mit einem Hotel verwechseln, zu deutlich fallen die Sicherheitsvorkehrungen ins Auge. Dennoch ist einiges anders als bei üblichen Gefängnissen. Keine Mauer umgibt die Anlage, sondern ein Doppelzaun gewährt den 648 Insassen Ausblicke. Das Strahlenprinzip wird jedoch auch hier angewandt; die Zellen sind in drei X-förmigen Baukörpern organisiert (die hier Hafträume heißen). Doch der gläserne Raum, von dem aus die Flure zu überblicken sind, sieht mehr aus wie das Schwesternzimmer einer Krankenhausstation. Um die Flure wiederum konzentrieren sich Wohngruppen mit je 18 Einzelhafträumen von je 10 Quadratmetern inklusive abgetrenntem WC, es gibt einen Aufenthaltsraum mit Küche und (vergitterter) Loggia.
Die freundlichen Flure haben apfelgrün-, brombeer- oder türkisfarbige Böden, die Möblierung ist keineswegs von vandalismussicherer Klobigkeit. Auf diese Weise soll der Mikrokosmos der Gefangenen dem normalen Leben zumindest ähneln, die Dinge ihrer unmittelbaren Umgebung und die freundliche Atmosphäre sollen Zuwendung spürbar machen. Im Übrigen, und auch das ist Hohensinn wichtig: Die Angestellten der Haftanstalt müssen ihr gesamtes Arbeitsleben in dieser Umgebung zubringen. Auch sie profitieren vom atmosphärischen Mehrwert, der das tägliche Miteinander entspannt.
Positiv könnte sich auch die größere Freizügigkeit auswirken. Die Magistrale, ein 260 Meter langer gläserner Gang, verbindet alle Bauteile miteinander. Die Gefangenen können ihren Arbeitsplatz in einer der großen Werkshallen selbstständig erreichen, ebenso den Sportbereich mit Kraftsporträumen und einer schönen, ganz mit Holz ausgekleideten Veranstaltungshalle, die Kunst- und Kreativräume, die Schule, die Arztstation, den Andachtsraum und den Einkaufsladen. Und sie können sich in der Hauptverwaltung in das Besuch- und Sprechzentrum begeben, einschließlich zweier Apartments für ungestörten Familienbesuch.
Etlichen Kritikern geht die Zuwendung an die Gefangenen zu weit. Von „Fünf-Sterne-Anstalt“ war die Rede, davon, dass die Gefangenen über noblere Sportanlagen verfügten als viele Berliner Schüler. „Klammes Berlin leistet sich neues Gefängnis“ – diese Schlagzeile geht jedoch an der Realität vorbei. Luxus wird man in Heidering nicht antreffen, allenfalls hier und da angenehme, helle, wohlgestaltete Verhältnisse, die aber nicht vergessen machen können, dass man sich im Strafvollzug befindet.
Und wenn schon ein neues Gefängnis aus Kapazitätsgründen unumgänglich ist, warum dann nicht ein solcher Bau, der kosten- und termingerecht realisiert wurde und langfristig wirtschaftlicher zu betreiben ist als etwa die Justizvollzugsanstalt Tegel? Zudem verspricht Heidering bessere Sozialisationserfolge. Von einem freundlichen Gefängnis profitieren im Idealfall beide, die Strafgefangenen und die Gesellschaft.
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