Filmfestival Venedig: Die Nabelschnur der Hoffnung
Kino außer Kontrolle: Das 70. Filmfest Venedig eröffnet mit George Clooney und Sandra Bullock, verloren im All.
Wetterleuchten am Lido. Noch schnell den Himmel über der Adria blankgeputzt, noch rasch die Palmenkübel vor dem Palazzo del Cinema postiert, bevor mit George Clooney und Sandra Bullock die ersten Stars über den roten Teppich laufen. Kein anderes Filmfest der Welt verrät in den Stunden vor seinem Start so freimütig die Wahrheit über sich selbst, über die eigene Künstlichkeit, die Essenz aus Talmi, Kulisse und Pappmaché. Alles Fake: Noch am Vortag stapeln sich Paletten voller Zementsäcke auf dem Festivalgelände, Kräne kurven auf den Uferstraßen herum, Teppiche werden verklebt, Rasenstücke verlegt und die alten Rumpelfahrstühle im Casinò, dem seit Menschengedenken improvisierten Festivalzentrum, mit goldener Farbe angepinselt.
Alte Bekannte, neue Experimente. Die italienischen Zeitungen klagen darüber, dass Italien seit fünfzehn Jahren keinen Goldenen Löwen mehr gewonnen hat, während die virtuelle Sala Web allabendlich eine für weltweit 500 Nutzer zugängliche Online-Vorführung anbietet. Festivaldirektor Alberto Barbera gibt freimütig zu, dass er einige begehrte Produktionen an Toronto abtreten musste, darunter Steve McQueens Kostümfilm „12 Years a Slave“ mit Michael Fassbender und Brad Pitt.
Große Namen konkurrieren um die Löwen
Als Startrampe für die Oscar-Saison wird das nächste Woche beginnende Festival in Kanada immer attraktiver. Derweil wirbt Barbera für seine Mostra Internazionale d’Arte Cinematografica, die die Fokussierung auf die Filmkunst schon im Namen trägt und ähnlich wie der Berlinale-Wettbewerb auf Risiko geht. Um die Löwen konkurrieren große Regie-Namen (Stephen Frears, Terry Gilliam, Gianni Amelio, Amos Gitai), Independentfilmer und Newcomer; aus Deutschland ist Philip Gröning dabei, auch Dokumentarfilme und Debüts gehen ins Rennen. Aber erst mal werden zur Eröffnungsgala 3-D-Brillen verteilt.
Sandra Bullock und George Clooney, verloren im All. Selten war 3-D so sinnvoll. In Alfonso Cuaróns „Gravity“ trudeln sie 500 Kilometer über der Erde, ihr Space-Shuttle wird von herumfliegendem Weltraumschrott zerstört, nun müssen sie freischwebend die nächste Raumstation erreichen, die Sojus der Russen. Der Sauerstoff wird knapp in den Astronautenanzügen.
Bullock ist die nervöse, hyperventilierende Junior-Ingenieurin, Clooney der coole Veteran, den nichts aus der Fassung bringt. Ein komplett im Studio und am Computer generierter Film über Panikattacken in der Schwerelosigkeit, über Einsamkeit und Kommunikation als Lebenselixier. Hallo, ist da wer? Kannst du mich hören? So lange die beiden über Funk und nabelschnurähnliche Kabel miteinander verbunden sind, gibt es Hoffnung. Der 51-jährige mexikanische Regisseur Cuarón („Harry Potter und der Gefangene von Askaban“, „Children of Men“) präsentiert eine krause Mischung aus Actiondrama, Realismus, Küchenphilosophie und Trash. Ein paar Lehren hält das Zwei-Personen-Kammerspiel immerhin bereit. Wobei die Kammer groß wie der Weltraum ist.
Du bist so allein, wie du dich fühlst
Erstens: Was immer sich im All bewegt, hat ein verdammt hohes Tempo drauf. Zweitens: Von wegen himmlische Stille, der zu mörderisch lauten Geschossen mutierende Space-Schrott müsste dringend mal weggeräumt werden. Drittens: Wer im All jobbt, sollte über Russisch- und Chinesisch-Kenntnisse verfügen. Auch die Sojus wird geschrottet, also weiter zur gottverlassenen Station der Chinesen – wieder mit Gebrauchsanweisung am Armaturenbrett, bloß mit noch fremderen Schriftzeichen. „Die Sonne über dem Ganges, großartig“, ist das Letzte, was Clooney funken kann – um für seine junge Kollegin doch noch einen Wodka-beseelten Spacewalk zwischen Leben und Tod zu unternehmen, der einzige Lacher in „Gravity“.
Also viertens: Du bist nur so allein, wie du dich fühlst, selbst in der ewigen Nacht. Und auch die Bilder selber taumeln und trudeln, kennen kein Oben und Unten, verlieren den Halt. Wer dass sehen will, sollte schwindelfrei sein. Allen anderen schlägt „Gravity“ auf den Magen.
Zum 70. Geburtstag schenken 70 Regisseure dem Festival einen Film
Kino außer Kontrolle, keine schlechte Eröffnung für ein Filmfestival, dem bleischwer sinnstiftenden Action-Showdown zum Trotz, zumal für die Jubiläums-Ausgabe der ältesten Filmschau der Welt. 1932 zu Mussolinis Zeiten gegründet, kann Venedig nach einigen Unterbrechungen nun 70 Jahrgänge vorweisen. Zum Geburtstag schenken 70 Regisseure aus aller Welt der Mostra je einen Kurzfilm. „Venezia 70 – Future Reloaded“ versammelt Miniatur-Hommagen ans Kino, eine Kürzestdoku aus Syrien, ein Memorial für die Opfer des Boston-Marathon-Attentats, Smartphone-Spielereien, Science-Fictions, Blickwechsel, Augenblicke, Selbstvergewisserungen.
Frédéric Fonteyne zeigt seinen Sohn, ein nacktes, fröhlich glucksendes Baby. Abbas Kiarostami steuert einen Slapstick bei. Amos Gitai lässt Jeanne Moreau aus dem Off über Poesie räsonieren. Der Chinese Peter Chan würdigt die verstorbenen Meister der Filmgeschichte, von Bergman und Antonioni bis zurück zu den Gebrüdern Lumière. Ganz schön nostalgisch, diese Zukunftsvision. Bernardo Bertolucci, der diesjährige Jury-Präsident, filmt die eigenen Füße, die in roten Turnschuhen stecken, während sein Rollstuhl über Roms Kopfsteinpflaster rumpelt. Die Schwerkraft hat auch Vorteile: Im irdischen Jammertal, überwindet so mancher Regisseur sie mit der Kunst der Selbstironie.
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