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© AFP

Pierre Boulez im Interview: Die Mauern müssen weg

Zum Auftakt der Staatsopern-Festtage: Der Dirigent und Komponist Pierre Boulez über Musikpaläste, Hörstürze und Abo-Systeme. Am Sonnabend dirigiert er in der Philharmonie.

Herr Boulez, als Sie letzte Woche zu Ihrem 85. Geburtstag die Wiener Philharmoniker dirigierten, gaben viele Abonnenten ihre Karten zurück. Empört Sie das?



Ich habe das gar nicht gewusst, und das war bestimmt besser so.

Auf dem Programm standen Werke von Strawisnky, Debussy, Janacek und von Ihnen selbst. Will das Publikum sich partout nicht „erziehen“ lassen?

Für mich sind die Institutionen wichtig, mit denen ich arbeite. Und die wollen von mir nun einmal keine gewöhnlichen Programme. Apropos: Was ist an Janaceks Glagolitischer Messe oder an Strawinskys Psalmen-Symphonie so schrecklich? Wer nicht bereit ist, die Tatsache zu akzeptieren, dass in einem Abonnement- Konzert Musik aus dem 20. Jahrhundert erklingt, der ist in meinen Augen, pardon, nicht kultiviert.

Ist die Klassik so konservativ wie ihr Ruf?


Ich fürchte ja. Schauen Sie, Cézanne oder Monet, unsere viel bewunderten Impressionisten, waren in ihrer Zeit keineswegs akzeptiert! Wobei die Malerei gegenüber der Musik einen entscheidenden Vorteil hat: Sie besuchen eine Ausstellung, das eine Bild gefällt Ihnen nicht – also gehen Sie weiter zum nächsten. Musik aber dauert. Da muss man 20, 30 Minuten lang etwas aushalten, was nicht dem eigenen Geschmack entspricht. Das macht wütend.

Werden die Zuhörer heute schneller wütend als vor zehn oder 20 Jahren?


Im Gegenteil: Es ist leichter geworden, den Musikbetrieb mit modernen Stücken, sagen wir, zu unterwandern. Aber man braucht die richtigen Strukturen. Ich denke, die großen Institutionen müssten verschiedene Kategorien von Publikum befriedigen, die Konservativen genauso wie die Experimentellen. Die Stammhörer für etwas, das ihnen fremd ist, zu interessieren, gelingt doch viel besser, wenn man mit dem Vorschuss des Vertrauens arbeiten kann. Die Museen haben das erkannt. Ich hoffe, dass uns in der neuen Pariser Philharmonie auch für die Musik ein solches Modell gelingt.

... in dem spektakulären Bau von Jean Nouvel, der 2012 eröffnet werden soll ...


Da wird es Säle von verschiedener Größe und Variabilität geben, für Barockkonzerte um sechs Uhr, Symphoniekonzerte um acht Uhr und Experimentelles nach 22 Uhr. Die Leute dürfen sich nicht voreinander genieren.

Persönlich wollten Sie immer wissen ...


... wie die Gesellschaft funktioniert, genau! Es hat sich so ungeheuer viel verändert seit dem 19. und dem frühen 20. Jahrhundert, und selbst wenn wir heute Musik von damals spielen, kann das nicht heißen, dass wir an den Präsentationsformen ewig festhalten. Unser globales Leben wird immer flüchtiger, die Abo-Systeme bröckeln, das muss uns klar sein! Früher gab es in Paris samstags um elf Uhr Generalproben. Warum? Weil man frei hatte. Heute hat Samstagvormittag kein Mensch mehr Zeit. Es sind auch diese praktischen Dinge, auf die wir reagieren müssen.

Ist es für Sie ein Zwiespalt, als Dirigent einerseits Teil des Musikbetriebs zu sein, und andererseits, als Komponist, gegen den Betrieb zu opponieren?

Ich vergleiche das Musikleben gerne mit einer Autobahn. Wenn man dort etwas zu reparieren hat, dann wird der Verkehr blockiert, dann ist für eine gewisse Zeit eben nur eine Seite befahrbar. Das heißt: Alle müssen langsamer fahren, bevor sie vielleicht schneller fahren können als zuvor. Mit der Musik verhält es sich ähnlich: Damit sich die Gewohnheiten ändern, muss man etwas blockieren.

In den sechziger und siebziger Jahren galten Sie als Provokateur. War die Provokation Ihre „Blockade“?

Ich habe immer nur gesagt, was ich denke, das war für mich die Wahrheit. Diese Wahrheit schockiert bisweilen, wer schaut schon gerne in einen Spiegel. Oft habe ich es mit Humor versucht, aber Schlagzeilen sind leider humorlos.

Sie meinen Ihren legendären Satz, dass man die Opern in die Luft sprengen sollte?


Ja, den auch. Ein anderes Mal habe ich vorgeschlagen, die Roten Garden sollten sich kulturrevolutionär unserer Monumente und Denkmäler annehmen, einfach um danach ein paar weniger davon zu haben. Daraus wurde, Boulez ist Kommunist, er predigt Terror und Gewalt! Wobei ich das tief im Herzen wirklich meine: Eine Kultur, die nicht imstande ist, mit ihrer Tradition zu brechen, die stirbt. Schauen Sie in die islamische Welt: Das ist, bei allen reaktionären Tendenzen, eine sehr dynamische Kultur. Und wir hocken in unseren byzantinischen Palästen und bangen um unsere Mauern. Das macht mir Angst.

Woher kommen diese Mauern?


Daran sind die Weltkriege schuld, besonders der Zweite. Die haben Europa erschüttert. Nach Hiroshima übrigens auch den Glauben an die Wissenschaft. Man fragt sich, was bleibt, und klammert sich an das, was man hat. Das ist falsch. Kultur braucht keine falsche Sicherheit, sondern offene Türen und ein Risiko.

Sie waren bei Kriegsende 20 Jahre alt.

Ich hatte immer einen gewissen Optimismus in mir. Für mich bedeutete das Jahr 1945, wieder atmen zu können, Freiheit, Aufbruch. Auch Richtung Deutschland, die Darmstädter Ferienkurse, Heinrich Strobel in Baden-Baden, später die Donaueschinger Musiktage ... Nie hätte ich mir das nehmen lassen, nur weil die Deutschen unsere „Erbfeinde“ waren.

Sie sind mit Komponisten groß geworden, die sich sehr stark als Generation begriffen haben, mit Stockhausen, Ligeti, Berio, Nono oder Bernd Alois Zimmermann. Wie ideologisch war diese Avantgarde?


Wir wollten für uns etwas entdecken. Darin waren wir solidarisch. Trotzdem hatte meine Musik mit der von Ligeti oder Nono nichts zu tun. Wir waren alle sehr verschieden, wie die jungen Komponisten heute auch. Vielleicht haben wir mehr diskutiert.

Wollten Sie schockieren, als Sie 1966 der Einladung folgten, in Bayreuth Wagners „Parsifal“ zu dirigieren?


Nein, aber ich wusste natürlich, dass es viele gab, die sich über einen Flop gefreut hätten. Für mich war es interessant, mit Wieland Wagner zu arbeiten und an der Idee einer sich aus sich selbst heraus erneuernden Institution mitzuwirken. Das ging auch sehr gut, und wenn Wieland nicht im selben Jahr gestorben wäre, hätten wir diese Arbeit sicher fortgesetzt. 1976 kam dann der „Ring“ mit Patrice Chéreau, das war anfangs ein harter Kampf. Ohne Wolfgang Wagner, der sich von Alpha bis Omega loyal zu uns verhalten hat, wäre das niemals zu schaffen gewesen. Was für ein Intendant! Heute spricht die Welt vom „Jahrhundert- Ring“.

Hat die Neue Musik bei Wagner geholfen?


Das ist eine gute Schule. Man braucht ungeheuer viel Disziplin, bei einer neuen Partitur kennt niemand das Stück, man hat keine Vergleiche. Bei Wagner war, wenn Sie so wollen, das ganze Orchester klüger und erfahrener als ich, das hilft. Man darf als Dirigent allerdings nicht schüchtern sein, man muss das wollen, unbedingt. Bei mir kam hinzu, dass ich mich als Mittler begreife. Meine Rolle war und ist es, die Musik meiner Kollegen ans Licht zu bringen. Es geht nicht darum, Karriere zu machen.

Nein?

Gut, die war wichtig, um bessere Orchester dirigieren zu können. Aber sonst, nein. Mich bewegt die Frage, wie können wir die Musik der Gegenwart und die der Vergangenheit in einen Dialog bringen. Auch an der Musikakademie von Luzern versuche ich, die jungen Leuten zu lehren, das moderne Repertoire zu lieben. Das ist für mich existenziell.

Sind die Jungen heute freier, aufgeschlossener, weil ihnen das Politische fehlt?

Ja und nein. Man darf Unterhaltung und Kultur nicht verwechseln. Zum „Parsifal“Vorspiel kann ich mir nicht die Zähne putzen. Die sogenannte ernste Musik verlangt Konzentration, auch Mühe. Das ist nicht elitär, die Verantwortlichen müssen nur mehr aufwenden, um die Menschen zu erreichen. Alle Arten von Nebenaktivitäten sind unglaublich wichtig geworden: So etwas wie „Rhythm is it!“ müsste normal sein. Unser Musikleben ist heute doch so demokratisch, so offen wie nie.

Wären Sie gerne noch einmal jung?


Das ist eine Märchenfrage, pardon.

Dann ohne Märchen: Wie bleibt man so gesund, so fit wie Sie?


Ich trinke nur Wasser. Außerdem glaube ich mein Alter höchstens, wenn ich es gedruckt sehe: acht, fünf. Und wie sagt man? Humor macht das Leben leichter.

Das Gespräch führte Christine Lemke-Matwey.

Pierre Boulez, am  26. März 1925 in Montbrison geboren, studierte bei Olivier Messiaen. 1952 besuchte er erstmals die Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik, 1966 debütierte er bei den Bayreuther Festspielen. Boulez leitete u. a. das New York  Philharmonic Orchestra und gründete in Paris das IRCAM-Institut für akustische Musik sowie das Ensemble Intercontemporain.

Am heutigen Sonnabend dirigiert Boulez in der Philharmonie am Pult der Staatskapelle Berlin Musik von Webern, Schönberg, Berg und ihm selbst. (16 Uhr). Am Sonntag leitet er ein Konzert mit dem West-Eastern-Divan-Orchestra (Staatsoper 20 Uhr). Informationen: www.staatsoperberlin.de

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