Funkhaus Nalepastraße: Die Magie der Holzvertäfelung
Paavo Järvi und die Kammerphilharmonie Bremen nehmen im Funkhaus Nalepastraße Schumann auf.
Es gibt wenige Orte in Berlin, an denen die Dunkelheit noch wirklich spürbar ist. Einer von ihnen ist das Funkhaus Nalepastraße: Die Düsternis, die den zwischen 1951 und 1956 von Franz Ehrlich erbauten Gebäudekomplex umgibt, können auch die Fackeln nicht aufhellen, die heute einer Reihe von schwarzen Limousinen den Weg durch die von grauen Baracken gesäumte Zufahrt weisen.
Was denn da los sei, fragt eine Stimme aus der Dunkelheit. Sie gehört einem jungen bärtigen Mann, der sich als Komponist und Arrangeur vorstellt und der offenbar auf ein Event hofft. Er ist einer von jenen jungen Kreativen, die das 13 500 Quadratmeter große Gelände bevölkern. Ebenso wie der Investor Albert Ben David, der das nach der Wende vernachlässigte Objekt 2006 erwarb, wünscht er sich eine Belebung des Areals – besonders im Großen Sendesaal 1, der für ihn einfach einer „der magischsten Orte der Welt“ sei.
Die Nachtgestalt verschwindet und wir betreten die großzügige Eingangshalle, die in eine gewaltige Freitreppe mündet. Hier sind wir richtig: Um die dekorativen Transportkisten der Deutschen Kammerphilharmonie Bremen stehen Sekt nippende Prominente, Freunde und Förderer des Orchesters. Gemeinsam zieht man durch den seit Jahrzehnten unveränderten ehemaligen Sitz des DDR-Staatsrundfunks, dessen holzvertäfelte Wände und stehengebliebene Uhren aus einer Marthaler-Inszenierung zu stammen scheinen, und betreten schließlich den Großen Sendesaal, wo sich die optische Magie des Orts ins Akustische erweitern soll. Denn hier, wo Pop- und Klassikgrößen wie die Black Eyed Peas, Sting, A-ha, Daniel Barenboim und Cecilia Bartoli Alben eingespielt haben, beginnen an diesem Abend die Aufnahmen zu einem Projekt, das sich schon jetzt weltweiter Aufmerksamkeit sicher sein kann: Die Kammerphilharmonie Bremen und ihr künstlerischer Leiter Paavo Järvi wollen die vier Symphonien von Robert Schumann einspielen. Es ist das Nachfolgeprojekt eines Coups, den die meisten Klassikkenner für unmöglich gehalten hätten: eine radikale Neudeutung von Beethovens sämtlichen Symphonien auf CD vorzulegen.
Nun also Schumanns Symphonien, beginnend mit der Rheinischen. Es ist eine fiebrige Interpretation voller Stimmungsschwankungen, die dennoch nie den großen Fluss des Werks zerreißen. Eine Serie von Live-Aufführungen sind der Aufnahme vorausgegangen. Nun stehen Musiker wie Tontechniker vor der Herausforderung, die Einheit des Werks in einer Folge von aus dem Stand musizierten Momentaufnahmen in einzelnen Takes aufzunehmen. Trotzdem wirken die Musiker fast entspannter als ihre Zuhörer. Was auch an dem Produzenten Philip Traugott liegt, der die Aufnahme aus dem Regieraum steuert. Erstaunt verfolgen die Zuhörer, wie sehr sich der Stardirigent Järvi und sein Orchester der Stimme aus dem Off anvertrauen. Gelassen folgen sie ihr sogar dort, wo Traugott einen einzelnen Akkord so lange auseinander nimmt, bis er nicht nur sauber, sondern gleißend rein klingt. Erst dann heißt es: „Der nächste Take ist an der Bar“.
Ein ganzes Wochenende habe er überlegt, bevor er Järvis Angebot einer Zusammenarbeit angenommen habe, verrät uns Traugott. Schließlich sei man seit 23 Jahren befreundet – „und professionelles Zusammenarbeiten kann auch Freundschaften zerstören.“ Järvi nachahmend, wiederholt Traugott den lakonischen Seufzer, mit dem ihn der Dirigent am ersten Tag im Tonstudio begrüßte: „Philip – it has to be perfect.“ Doch technische Perfektion ist kein Selbstzweck: So wie eine perfekte Kontrolle aus dem Regieraum dem Dirigenten erlaube, sich ganz auf den musikalischen Zusammenhang zu konzentrieren, produziert erst spieltechnische Perfektion eine Sicherheit, die es ermöglicht, dass etwas zwischen den Noten passiert. „Denn alle große Musik“, so Traugott, „spielt sich zwischen den Noten ab“.
Natürlich funktioniert ein solcher Ansatz nur, wenn das Orchester die dafür nötige Mischung aus Vertrauen und Ehrgeiz mitbringt. Bei der Kammerphilharmonie Bremen kommt diese Haltung nicht von ungefähr: Die Motivation des Ensembles ist auch deswegen einzigartig, weil alle Musiker als Gesellschafter an ihrem eigenen Unternehmen beteiligt sind. Basisdemokratische Entscheidungen, Rotationen zwischen den Pulten und eine gewachsene Diskussionskultur haben Geist und Klang des Ensembles geprägt: „Wie ein großes Streichquartett“, bringt Konzertmeister Daniel Sepec die Beziehungen der Musiker auf den Punkt.
Sind die Bremer vielleicht sogar so etwas wie ein Modell für ein Orchester des 21. Jahrhunderts? Nein, meint Paavo Järvi. „Es sind Idealisten.“ Weshalb man sich auch davor hüte, nach dem Erfolg mit Beethoven „die gleiche Kuh weiterzumelken“. Es ist zumindest nicht das Festgefügte der symphonischen Form, was Järvi als verbindendes Element an beiden Komponisten so fasziniert, sondern ihr Wahnsinn. Elektrisiert beginnt Järvi den Gedanken auszuführen: singend, sprechend und halb dirigierend macht er den Unterschied zwischen einem Beethoven’schen Störmanöver und Schumanns „hemmungslosem Subjektivismus“ klar. Er imitiert die steifen Interpretationen von Kollegen, die in dem Komponisten bloß einen „Brahms für Arme“ sehen, um einem die gleichen Melodien danach so plastisch vorzusingen, dass man am liebsten zur Geige greifen möchte, um zu zeigen, dass man ihn verstanden hat. Die Hand zuckt auch noch, als uns die Dunkelheit wieder eingeschlossen hat.
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