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Der Schriftsteller, Regisseur, Drehbuchautor und Produzent Emmanuel Carrère.
© Joel Saget / AFP

„Der Widersacher“ von Emmanuel Carrère: Die Lüge war seine Krankheit

Der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère verwebt Zeitgeschichte, Autobiografie und Fiktion. In seinem Roman „Der Widersacher“ nähert er sich einem Hochstapler, der seine Familie ermordet hat.

Nachher ist wieder alles so wie vorher. Wenigstens beinahe, bloß für ein paar Stunden. Nachdem Jean-Claude Romand seiner Frau den Schädel eingeschlagen und seine beiden Kinder erschossen hat, verlässt er das Haus, um Zeitungen zu kaufen. Die Verkäuferin sagt, er habe ganz normal gewirkt. Nachbarn beobachten, wie er seinen Briefkasten leert. Dann wickelt er seinen Karabiner ein, verstaut ihn im Kofferraum und fährt zu seinen Eltern, um auch sie zu töten. Der Gang zum Kiosk, die Alltagsroutine am Briefkasten erscheinen fast so schrecklich wie die Tat selbst. Weil keinerlei Gemütsregung zu spüren ist. „Habe ich das getan, um die Wirklichkeit zu verleugnen, um etwas vorzutäuschen?“, fragt der Angeklagte vor Gericht.

Womit er wahrscheinlich schon wieder etwas vortäuscht, in eine neue Rolle schlüpft: die des unschuldig Schuldigen, der sich sein eigenes Handeln nicht erklären kann. Die Zeitungen nennen ihn, den mindestens fünffachen Mörder, ein „Monster“ und „Ungeheuer“. Für Emmanuel Carrère ist er ein „Verdammter“ und „Phantom“, ein Mann, dessen Persönlichkeit nicht zu greifen ist, weil sein Ich aus einer Leerstelle besteht.

Achtzehn Jahre gelang es Romand, sich selber quasi zu einer fiktiven Figur zu machen. Gegenüber Freunden und seiner Familie behauptete er, ein Arzt zu sein, zu Arteriosklerose zu forschen und für die Weltgesundheitsbehörde zu arbeiten. Stattdessen saß er in Cafés und Autobahnraststätten, unternahm Waldspaziergänge oder verdöste die Tage im Wagen. Sogar Kongressreisen unternahm er, die ihn in Wirklichkeit zu einer Geliebten in Paris führten. Als der Schwindel aufzufliegen drohte, kam es zur Katastrophe.

Carrère gehört zu den wichtigsten französischen Schriftsteller unserer Tage

„Der Widersacher“ heißt der Roman, den Carrère dem Fall gewidmet hat. Der Widersacher, das ist Romand selbst, denn seine Täuschung galt zuallererst ihm. Seit er im zweiten Jahr seines Medizinstudiums eine Prüfung verpasste, weil er wegen einer gescheiterten Beziehung in den „Kummer“, wohl eine tiefe Depression, gerutscht war, hatte er sich in einer Scheinwelt eingerichtet. Die Lüge wurde seine Krankheit. Nie versuchte er, die Prüfung nachzuholen, nie vertraute er sich jemandem an. Der Hochstapler agierte wie ein Schauspieler, die Abwesenheit, die Leere und das Nichts waren, so Carrère, „keine vorübergehende Panne auf seinem Weg, sondern die einzigen Erfahrung in seinem Leben“.

Emmanuel Carrère gehört zu den wichtigsten französischen Schriftstellern unserer Tage, und der „Widersacher“, im Original von 1999 und nun erstmals in einer deutschen Ausgabe herausgekommen, ist eines seiner Schlüsselwerke. An diesem Stoff entwickelte er eine eigene Art des Erzählens, den Tatsachenroman in Ich-Form. Später verfeinerte Carrère seine zwischen Autobiografie, Zeitgeschichte und Fiktion schwebende Technik in „Ein russischer Roman“ (französisch 2007, deutsch 2017), der von der Suche nach den Wurzeln seiner Familie handelt, und im meisterlichen Anti-Schelmenroman „Limonow“ (2011/2012) über den russischen Punk-Schriftsteller, Neo-Stalinisten und Balkankriegs-Kämpfer Eduard Limonow.

Briefwechsel und Gefängnisbesuche

Am Morgen, an dem Romand im Januar 1993 seine Familie auslöscht, sitzt Carrère mit seinen Kindern in einer Schulversammlung. Sein ältester Sohn Gabriel ist fünf Jahre alt, genauso alt wie Antoine Romand. Darüber unterrichtet der Schriftsteller den Leser genauso wie über seine umfangreichen Recherchen. Er sucht die Orte auf, in denen der Mörder lebte, spricht mit Freunden und Familienmitgliedern, besucht den Prozess, der mit einer Verurteilung zu lebenslanger Haft endet und arbeitet sich durch 10 000 Seiten Gerichtsakten.

Obwohl er einen Briefwechsel mit Romand beginnt und ihn nach dem Urteil mehrmals im Gefängnis besucht, bekommt er ihn nicht zu fassen. Romand wirkt wie ein „freundlicher Musterknabe“, verschanzt sich hinter floskelhaften Scheinbekenntnissen und neuen Legenden, badet im Selbstmitleid. Carrère unterbricht das Buchprojekt immer wieder, weil er nicht den richtigen Ton findet. Am Ende wechselt seine Ich-Erzählung mit Romands Perspektive, die einer lückenhaften Zeugenaussage ähnelt.

Das Setting des Romans erinnert an die Krimis von Claude Chabrol, wo die Verbrechen der Provinz-Bourgeoisie hinter zugezogenen Gardinen stattfinden. Das Städtchen Ferney, in dem Voltaire seine letzten Jahre verbrachte, hat es durch seine Nähe zum nur wenige Kilometer entfernten Genf zu Wohlstand gebracht. Viele Einwohner arbeiten für internationale Organisationen und pendeln zwischen französischen Eigenheimen und Schweizer Büros. An der Schule, die auch Romands Tochter besucht, sorgt die Affäre des Direktors mit einer Lehrerin für Unruhe. Der Direktor wird entlassen, Romand spricht in einer Art Abschiedsbrief von „Ungerechtigkeit, die einen in den Wahnsinn treiben kann“. Mit der ehemaligen Lehrerin wird er als Häftling eine Liebesbeziehung beginnen.

Der Roman machte Romand zur Figur der Popkultur

Das Leben im Speckgürtel ist sehr teuer, vor allem für einen Mann, der seine Geliebte in Haute-Cuisine-Restaurants ausführt und mit Schmuckstücken beschenkt. Romand bietet Familienmitgliedern an, Geld über seinen Posten bei der Weltgesundheitsorganisation auf Schweizer Konten anzulegen, steuerfrei. Über die Jahre veruntreut er ganze Vermögen. Als der Schwiegervater misstrauisch wird, stirbt er bei einem Treppensturz. Romand versichert, ihn nicht getötet zu haben. Darf man ihm glauben?

Während Carrère an dem Buch arbeitet, übersetzt er gleichzeitig das Markus-Evangelium. So tauchen immer wieder biblische Begriffe und Anspielungen in dem Text auf. Der Titel „Widersacher“ ist ein Synonym für Satan, es geht um Versuche „Vergebung zu erlangen“, und Carrère glaubt, die Geschichte habe ihn zum Erzähler „erwählt“. Der Schriftsteller hat Skrupel, er begleitet seinen Protagonisten mit „schmerzhafter Sympathie“, einmal schämt er sich angesichts seiner eigenen Kinder sogar dafür, dieses Buch zu schreiben. Es half, Romand in Frankreich zu einer Figur der Popkultur zu machen. Der „Widersacher“ wurde mit Daniel Auteuil in der Hauptrolle verfilmt, zwei weitere Filme und mehrere Fernsehepisoden beruhen auf dem Fall, den sich kein Drehbuchautor hätte ausdenken können.

„Die Fiktion ist an Plausibilität gebunden, die Wirklichkeit nicht“, sagt Carrère in einem Gespräch mit der Übersetzerin Claudia Hamm. Nichts an dieser unglaublichen Geschichte ist erfunden, das macht sie so erschütternd.

Emmanuel Carrère:  Der Widersacher. Roman. Aus dem Französischen von Claudia Hamm. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2018. 195 Seiten, 22 €.

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