Martin Mosebachs Roman "Das Blutbuchenfest": Die Leichen meiner Feinde im Main
Geschwatz und Menschenhatz: Autor Martin Mosebach verknüpft in seinem neuen Roman "Das Blutbuchenfest" hessische und bosnische Schicksale.
Eine bezwingende Erzählidee: Martin Mosebachs Roman „Das Blutbuchenfest“ entwirft einen Frankfurter Figurenreigen, in dessen Mitte die Frau steht, die bei all den mehr oder weniger fadenscheinigen Herrschaften für Ordnung sorgt: die resolute bosnische Putzfrau Ivana Mestrovic. Einer ihrer Dienstherren, der Wichtigmensch und Kulturimpresario Wereschnikow plant einen Kongress, dessen Thema nicht schiefer in der Zeit um 1990 liegen könnte: „Die Wurzeln und Fundamente der menschlichen Würde in den Kulturen des Balkans“. Das hat etwas von der Parallelaktion in Musils „Mann ohne Eigenschaften“, wo ein ganzer Gesellschaftskreis eine ambitionierte Idee für eine Thronjubiläumsfeier sucht, die niemals stattfinden wird.
Wieder einmal blamiert sich der Geist vor der Wirklichkeit. Denn auf dem Balkan der frühen neunziger Jahre wird die menschliche Würde in den Dreck getreten. Es herrscht wieder Krieg in Europa. „Das Blutbuchenfest“ läuft auf einen doppelten Exzess hinaus: eine anarchische Party in einem Frankfurter Villengarten und der Beginn der ethnischen „Säuberungen“ in Bosnien. Hier wird gefeiert, dort vertrieben; hier Geschwatz, dort Menschenhatz. Verknüpft werden die beiden Handlungsorte mit dem Mobiltelefon: Während Ivana das Fest betreut, steht sie in Verbindung mit ihrer Familie, die sich mit ein paar Habseligkeiten auf die Flucht macht.
Mosebachs Anachronismus erregt Kopfschütteln
Mosebachs Anachronismus hat Kopfschütteln erregt. Tatsächlich hatten Anfang der Neunziger nur die wenigsten Handys, und wenn, waren es unförmige Kästen. Über Ivanas Mutter hinter den bosnischen Bergen aber heißt es: „Ihr kleines Telephon steckte stets in der Schürzentasche.“ Als sich der Immobilienhai Breegen auf der Flucht vor einem Nebenbuhler im Kleiderschrank verstecken muss, kocht er vor Wut, weil er darin keinen Empfang hat.
„Die beklopptesten Bergsteiger schickten ihre Rettungsrufe aus dem Himalaja“, schimpft er. Mag sein, aber doch erst seit dem Jahr 2010, als am Mount Everest Sendemasten aufgestellt wurden. In der bosnischen Kleinstadt Prozor haben bei Mosebach alle Männer schwarze Lederjacken an und halten „sämtlich ihr Mobiltelephon in der Hand“. Als die Kroaten fliehen, sieht man im dunklen Wald das „eisige Licht“ der Displays. Kurz: Mosebach trägt das Motiv so dick auf, dass man an ein Versehen kaum glauben mag.
Unscharfe Chronologie
Zumal die Chronologie auch in anderer Hinsicht unscharf ist. Das Fest und die initiale Vertreibung finden im Sommer statt. Wie verhält sich das zur Realität? Im Sommer 1991 herrschte noch kein Krieg in Bosnien. Man fühlte sich noch fern vom Gemetzel in Kroatien; im multikulturellen Sarajevo gab es Friedensdemonstrationen. Auch der Sommer 1992 kommt nicht infrage, da war der Krieg bereits in vollem Gang; die Belagerung Sarajevos hatte im April begonnen.
Noch weniger passt Mosebachs Konfrontation von muslimischen Bosniaken und katholischen Kroaten zum realen Kriegsverlauf. Bei ihm beginnen die Kriegshandlungen damit, dass die auf ihren Gehöften verstreuten Kroaten vor der Aggression der Muslime fliehen: Das altehrwürdige Lehmziegelhaus der Mestrovic-Familie, mit dessen ausführlicher Beschreibung die bosnischen Partien des Romans beginnen, steht am Ende in Flammen. Im ersten Jahr des Bosnienkriegs fanden jedoch Vertreibungen durch die Serben statt, die Kroaten und Bosniaken gleichermaßen betrafen, weshalb die beiden Volksgruppen anfangs gemeinsam gegen die serbische Miliz kämpften.
Hat sich Mosebach etwas bei der Abweichung von den Tatsachen gedacht?
Die Flucht der Mestrovic-Familie vor den Muslimen setzt also einen befremdlichen Akzent. Hat sich der Katholik Mosebach etwas bei dieser Abweichung von den Tatsachen gedacht? Oder ist sie ihm einfach unterlaufen? Nun ist es eine Sache, Mosebachs lässige oder fahrlässige Realienwirtschaft festzustellen, etwas anderes aber, nach dem Rang des Romans zu fragen. Dass sich Mosebachs Welt von der Wirklichkeit unterscheidet, stiftet keinen größeren Schaden, weil er es ja nicht auf eine dokumentarische Darstellung angelegt hat. Sondern auf ein tragikomisches Gesellschaftspanorama, das, wie schon im großartigen Vorgängerroman „Was davor geschah“, durch die plastische Darstellung der Figuren überzeugt.
Mosebachs Formbewusstsein macht ihn sensibel für die Unterhöhlungen scheinbar solider bürgerlicher Fundamente. Ob Werber, Berater, Konferenzorganisatoren, eine großzügig ausgehaltene Geliebte zweier Männer oder eine von Marzipanparfum umwehte „Agentin“, die ihren Kunden das Gefühl vermittelt, „einer Elite anzugehören“ – den Schein bewirtschaften alle Figuren des Romans, lauter heimliche Hochstapler, die mit seriöser Miene ihre Luftbuchungen vornehmen. „Sie nennen es Arbeit“ – diese Devise ist ja nicht auf Angehörige der digitalen Boheme beschränkt. Mosebach zeigt: Simulierte Existenzen führen auch viele Bürger. Man lebt auf großem Fuß, legt eine sagenhafte Pleite hin wie der Immobilien-Breegen, der dann aber wieder hochkommt und eine triumphale Metaphorik in Anspruch nimmt: „Ich habe die Leichen meiner Feinde den Main hinuntertreiben sehen.“
Merzingers Restaurant, wo das Essen so fadenscheinig ist wie die Stammgäste, ist der Treffpunkt des Romans. Hier schmiedet der Schmarotzer Rotzoff den Plan zum Blutbuchenfest, das ihn sanieren soll. Er gibt Genussscheine aus, überteuerte Eintrittskarten („Einladungen“) für die Party des Sommers: exklusiv, exquisit, exzessiv. Stattfinden soll das Ganze in der Villenetage des Finanzberaters Doktor Glück. Das Buffet wird miserabel und die Toilette hoffnungslos überlastet sein, umso reichlicher aber der Alkohol fließen: eine feuchtfröhliche Farce.
Kontrastive Kapitel über eine archaische Anderswelt
Die blasse Erzählerfigur, streckenweise ganz im Hintergrund, ist ein Kunsthistoriker, der von Wereschnikow beauftragt wird, den Balkankongress mit einem Beitrag über den Bildhauer Ivan Mestrovic zu schmücken. Der Künstler entstammt zufällig derselben Sippe wie die Putzfrau Ivana, wodurch sich Recherchebesuche in Bosnien legitimieren. Das trägt dem Roman starke kontrastive Kapitel über eine archaische Anderswelt ein, mit dem Höhepunkt eines Hochzeitsfests, das in die Tragödie umkippt. Ein schwerer Pferdewagen löst sich aus der Befestigung in Hanglage und rollt bergab – über den Korb mit Ivanas Baby, das diese nur kurz einer unachtsamen Nichte anvertraut hatte. Wie der Autor hier ganz beiläufig ein paar Zufälle zur böse rasselnden Schicksalskette zusammenschmiedet, das ist große Literatur.
Der Roman hat literarische Epiphanien, wenn Mosebach das Martyrium einer in kochendes Wasser geworfenen Schildkröte beschreibt oder die Krähen als Totenvögel zu ihrem Recht kommen lässt, mit „schweren Hüpfern“ und Flügeln wie „feuchte Putzlumpen“; dann wieder sehen sie aus, „als hätten sie gar keinen Körper, seien aus schwarzem Papier geschnitten, ein krähenförmiges Loch in der Landschaft, durch das die Kohlenhölle, die hinter allem verborgen war, hervorsah“.
Es gibt immer wieder diese fast metaphysischen Momente einer an Heimito von Doderer geschulten Beschreibungskunst. Da öffnet sich unterm „sanften Winddruck“ ein Fenster, ein „frühlingshafter Hauch“ weht ins Zimmer, bis der Fensterflügel die Lieblingswhiskykaraffe der Modeschöpferin Beate Colisée touchiert, so dass sie ins Wanken gerät und auf dem Fußboden zerschellt – die Beschreibung einer Miniaturkatastrophe, eine Spezialität Mosebachs. Selbst Männerkumpanei wird mit proustscher Liebe zum Detail hintergründig gemacht. Kurz: Dieser Roman ist nicht zuletzt eine Komödie der Kommunikation, in der auch aus der Zeit gefallene Mobiltelefone ihren Platz haben, ein reiches Buch, das durch seine Bizarrerien nicht ärmer wird.
Martin Mosebach: Das Blutbuchenfest. Roman. Hanser Verlag, München 2014. 448 S., 24,90 €.
Wolfgang Schneider
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