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"Hineingeboren": Der Lyriker und Prosa-Autor Uwe Kolbe
© Gaby Gerster/S. Fischer

Uwe Kolbes Roman "Die Lüge": Die Lachnummer Wahrheit

Mein Vater, der Stasioffizier: Uwe Kolbes autobiografisch inspirierte Romanerfindung „Die Lüge“ erzählt von der fatalen Korrumpiertheit eines untergegangenen Landes

Ein Land ohne Namen, doch mit erkennbarem Gesicht. Zwischen Berlin, Halle und Leipzig erstreckt es sich in schwelgerisch ausgerollten Landschaften, die ihm erzählerisch eine Weite verleihen, die es nie besaß. Ein Land auch am Rand der Zeit. Es lebt von einer sozialistischen Mission, die es in die Zukunft tragen soll, zugleich bröckelt es freudlos vor sich hin. Selbst die historischen Erschütterungen, die es erfährt, erreichen das Bewusstsein seiner Bewohner nur stark gedämpft. Der Juniaufstand 1953, die Verkapselung 1961, die Prager Rebellion 1968 – Marginalien eines Lebens, dessen Ereignishaftigkeit im Privaten liegt.

Vineta lautet die Chiffre, die Uwe Kolbe, 1957 in Ostberlin geboren, für dieses Land in seinen Gedichten und Essays gefunden hat. In seinem ersten Roman heißt es allenfalls einmal die Republik – vielleicht weil die Granden der Einheitspartei seinen vollständigen Namen zu oft, zu laut und zu pathetisch aussprachen, als dass man ihn noch einmal ungeniert in den Mund nehmen dürfte. Vielleicht spricht ihn aber auch der Titel seines Buches in aller Unversöhnlichkeit aus: „Die Lüge“. „Die Wahrheit war eine verbreitete Lachnummer“, erinnert sich der Ich-Erzähler, der es mit ihr bald selber nicht mehr so ernst nimmt.

Der Roman ist für Kolbe eine erfundene Erinnerung - oder erinnerte Erfindung

„Die Lüge“, sagt Uwe Kolbe, ist „eine erfundene Erinnerung. Oder eine erinnerte Erfindung, eben ein Roman.“ In gewissem Maß gilt das für jeden autobiografischen Text. Wenn Uwe Kolbe es hier noch einmal eigens betont, hat das seinen Grund in einer verwirrenden Doppelstrategie, mit der er das ihm Widerfahrene mit aller literarischen Macht zu ergreifen versucht – und es sich zugleich nach Kräften vom Leibe hält. Kolbe verarbeitet die Erfahrung, als junger Dichter von seinem leiblichen Vater, einem hauptamtlichen Offizier der Staatssicherheit, bespitzelt worden zu sein.

Der biografische Umstand selbst ist bekannt; Kolbe hat davon mehrfach berichtet. In „Die Sache mit V.“ gab er dem Geschehen sogar schon einmal eine literarische Form. Der kurze Text variiert die von Hans Joachim Schädlich 1992 im „Kursbuch“ veröffentlichte Erzählung „Die Sache mit B.“ über die fast 20 Jahre währende Bespitzelung durch seinen älteren Bruder Karlheinz, der sich 1997 auf einer Berliner Parkbank erschoss. Auch Romanszenen wie ein Anwerbeversuch der Stasi, dem Kolbe als 18-Jähriger widerstand, haben Vorläufer: Er berichtet davon in dem Band „Renegatentermine“.

Beide Texte unterscheiden sich allerdings sowohl durch ihre Lakonie wie den geringen Grad der Fiktionalisierung fundamental von seinem Roman, der ordentlich in den Farbtopf greift und ausmalt, was auszumalen geht. Vor allem hat Kolbe das Geschehen aus der Dichter- in die Musikerszene transponiert. Der Komponist Hadubrand „Harry“ Einzweck jagt einem ominösen „Klang der Welt als Sound“ nach, der ihn schon mit 17 Jahren so seltsame Dinge wie ein Konzert für Straßenbahn und Schienenschleife schreiben lässt. Der Vater Hildebrand „Hinrich“ Einzweck ist fördernd und hauptamtlich überwachend der folkloristischen Singebewegung verbunden, die hier als Phänomen der Wingding-Clubs firmiert.

Dem Vater gefällt die DDR, der Sohn wird hineingeboren

Uwe Kolbe tut alles, damit nur ja niemand in Versuchung kommt, Harrys Geschichte mit der seinen zu verwechseln, und zwinkert einem doch auf Schritt und Tritt mit der eigenen Vergangenheit zu – etwa indem er seinen Mentor, den Dichter Franz Fühmann, hier als Meisterkomponisten Sebastian Kreisler porträtiert. So ist die „Die Lüge“ halb Schlüsselroman, halb Verfremdungsorgie, und fordert zu genau jenem Detektivspiel auf, das Kolbe eigentlich vermeiden will.

Kolbe führt die Geschichten von Vater (in der dritten Person) und Sohn (in der ersten Person) fast über die gesamten knapp 400 Seiten lang parallel. Man erfährt vom Kriegsheimkehrer Hinrich, der sich der Idee einer neuen Gesellschaft mit Haut und Haar verschreibt, und von Harry, dem in diese Gesellschaft Hineingeborenen, dem sich anfangs noch die Haare sträuben. Doch während man darauf wartet, dass sich die dramaturgische Schlinge endlich zuzieht, begreift man, dass die Katastrophe dieser Vater-Sohn-Beziehung gerade in der Vermeidung des offenen Konflikts besteht. Indem sie bis zuletzt umeinander herumtänzeln, verstricken sie sich bis zur Identitätsauflösung ineinander. Nicht nur, dass der regimekritische Sohn, von der Zensur schmerzlos, fast unmerklich gebeugt, dem Vater mit Informationen über die Künstlerboheme freiwillig in die Hände spielt. Im letzten Kapitel verschmelzen sie zu einer Person: Das Erzähler-Ich gilt auf einmal beiden.

Uwe Kolbe übt die Kollusion - und bringt Vater wie Sohn zur gleichen Frau

Der Psychologe Jürg Willi hat für diese stillschweigende Kooperation von Paaren den Begriff der Kollusion geprägt: ein unbewusstes Verhalten, von dem beide Seiten profitieren. Auf das Verhalten in autoritären Strukturen angewandt, macht diese Kollusion die strikte Trennung von Dissidenz und Konformismus fragwürdig. Sie kontaminiert aber auch alles Private. Besinnungslos stolpern Vater und Sohn von einer Affäre zur nächsten: zwei Hengste von furchterregender Potenz, die sich am Ende sogar mit denselben Frauen einlassen. Ein serieller Liebesverrat, der willige Opfer findet – und den Autor zuweilen an die Kitschgrenze seiner erotischen Imaginationskraft führt.

„Ich lebte in einem Kokon des Ungesagten“, erklärt Harry, kurz bevor ihm die Ex-Geliebte des Vaters, eine hauptamtliche Stasi-Frau, an die Hose gehen darf. „Unter uns herrschte ein grausamer Mangel an Konkretion! In unseren engen, versoffenen Zusammenhängen herrschte Mangel an Genauigkeit. Wir sagten nichts aus, nichts, verdammt noch einmal, gar nichts. Während hier vor mir eine Vertreterin der Sprache saß, die noch existierte in der Gegend, die aber auf der falschen Seite gehandelt wurde und deshalb nur falsch sein konnte, benutzt wurde von denen da, so dass sie auf meiner Seite unbenutzbar war.“

Uwe Kolbe ist ungenau - vor allem bei der Figur des Harry

Uwe Kolbe schildert diesen Verblendungszusammenhang ohne moralischen Furor, ja mit subkutaner Dezenz. In zahlreichen Episoden wird die Gemengelage aus Stallwärme, Kleingeisterei und Freiheitsdrang eindrucksvoll lebendig. Dennoch kämpft „Die Lüge“ mit einer ganzen Reihe von Problemen, von denen der konsequente Einsatz des Konjunktivs II in der indirekten Rede (statt des Konjunktivs I) die kleinste Kleinigkeit ist.

Das Offensichtlichste ist die Figur des Komponisten. Denn Harrys musikalisches Denken ergeht sich in wüsten Ausdrucksmetaphern, die mit dem Handwerk des Komponierens wenig zu tun haben. Kolbe, als einer der besten Lyriker seiner Generation mit dem Materiellen künstlerischer Prozesse von Grund auf vertraut, dilettiert ohne Not als Erfinder Neuer Musik – und vergreift sich auch historisch, wenn er beispielsweise Charles Ives, John Cage und Steve Reich schlicht der seriellen Musik zuschlägt

Kolbe setzt dabei aber nicht nur die Glaubwürdigkeit seines Alter Ego aufs Spiel, er nimmt ihm über weite Strecken auch eine entscheidende Konfliktzone: die Sprache. In seinem Land werden zwar Berichte geschrieben, aber das Fabrikmäßige, mit dem es seine Bürger dazu verführte, sich gegenseitig zu bespitzeln und damit eine eigene Art von Literatur hervorbrachte, wird nicht erkennbar. Das Lügenhafte und das Wahrhaftige, dessen Tonlagen er sonst in klaren semantischen Zusammenhängen nachgeht, verschwimmt hier in Harrys Klangwolken.

In "Lüge" bleibt die Moralfrage offen, wie gegen den Nächsten gespitzelt wird

Ein Grund dafür mag sein, dass der von ihm bewunderte Wolfgang Hilbig, der Kolbe auch ein Motto liefert, einen vergleichbaren Roman in Gestalt von „Ich“ schon vor 20 Jahren veröffentlicht hat. Andererseits traut sich Kolbe an noch sehr viel berühmtere Werke heran. „Die Lüge“ ist die epische Überschreibung des althochdeutschen Hildebrandslieds, womit Kolbe den musikalischen Stoff wieder in sein dichterisches Reich zurückholt. Auch damit kommt allerdings ein Stück Enthistorisierung ins Spiel, das bei allem Kalkül nicht ohne Gefahren ist.

Die Unentschiedenheit zwischen Abstraktion und Konkretion durchzieht das ganze Buch. So gibt es keine erkennbare Regel, wann historische Persönlichkeiten ihren Namen tragen und wann ein Pseudonym. Wolf Biermann wird zu Riebmann, Robert Havemann aber bleibt Havemann. Peter Weiss wird zu Paul Schwarz, Erich Arendt und Adolf Endler behalten ihre Namen. Und dann die Ungenannten, die man durch ein Gedichtzitat identifizieren muss (Reiner Kunze) oder einen Buchtitel (Christa Wolf). Ein ähnliches Vorgehen in der Musik.

Kerstin Hensel hat zu Recht einmal erklärt, als literarisches Thema interessiere sie nur Verrat, nicht die Staatssicherheit selbst. Doch wenn Romanfiguren auch nur in ihrer individuellen Not lebendig werden, entfalten sie ihre Anlagen doch unter spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen. Und so sehr ein Staatswesen die Moral eines ganzen Volkes korrumpieren kann, so sehr macht es einen Unterschied, ob man den Nächsten in der Liebe betrügt oder ihn einem undurchsichtigen Apparat ausliefert. Insofern erzählt diese romanhafte „Lüge“ nur die halbe Wahrheit.

Uwe Kolbe: Die Lüge. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2014. 384 Seiten, 21,99 €. – Die Buchpremiere findet am Dienstag, den 25. Februar, um 20 Uhr im Literarischen Colloqiuum Berlin statt.

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