Kultur: Die Kuppel der Republik: Sechs Bände über Architektur, Geschichte und Gegenwart des Reichstagsgebäudes
Die neue Kuppel des Reichstagsgebäudes ist offenkundig zur Hauptstadt-Attraktion Nummer 1, ja zum Wahrzeichen der "Berliner Republik" geworden. Da verwundert es nicht, daß sie den Verlagen von dreien der sechs hier anzuzeigenden Bände offenbar als das beste Lockmittel für Käufer erscheint.
Die neue Kuppel des Reichstagsgebäudes ist offenkundig zur Hauptstadt-Attraktion Nummer 1, ja zum Wahrzeichen der "Berliner Republik" geworden. Da verwundert es nicht, daß sie den Verlagen von dreien der sechs hier anzuzeigenden Bände offenbar als das beste Lockmittel für Käufer erscheint. Nur zwei Bücher haben den Reichstag im Haupttitel, eines bemüht die viel zitierte Giebel-Inschrift "Dem Deutschen Volke".
Doch solche Emotionen kommen in den allesamt reich bebilderten Bänden nur in knapper Sachlichkeit vor. Der seit Kaiser Wilhelms Zeiten immer wieder aufbrechende Streit um das Wie, Wo und Warum der Reichstagskuppel wird nüchtern und allenfalls mit leisen Zweifeln an der letzten, heutigen Gestalt abgehandelt. Natürlich ist die vom britischen Architekten Norman Foster ebenso widerwillig wie genial konstruierte Kuppel in allen Bänden auch das bevorzugte, in immer neuen Varianten abgebildete und beschriebene Motiv. Sonst aber sind die Bücher so verschieden, dass, wer umfassend unterrichtet sein will, eigentlich alle sechs nach Hause tragen müßte.
Am gewichtigsten von Format und Inhalt gibt sich der Band "Dem Deutschen Volke", der das Bauwerk vor einem sehr viel weiteren Horizont zeigt: Eine "Festschrift zum Einzug des Parlamentes ins Reichstagsgebäude" nennt ihn Bundestagspräsident Wolfgang Thierse in seinem Geleitwort. Die sechs Aufsätze des ersten Teils beginnen mit einem Abriß der deutsche Parlamentsgeschichte von Heinrich August Winkler. Es folgen Abhandlungen verschiedener Autoren über die Parlamentsarchitektur in der Vergangenheit, einschließlich des ersten Nachkriegs-Wiederaufbaus des Reichstags durch Paul Baumgarten; über die Staatsarchitektur in der "Hauptstadt der DDR" und über den neuen gläsernen, nun leerstehenden Bonner Bundestags-Plenarsaal. Dann wird in den neun Aufsätzen des zweiten Teils einleitend vom Herausgeber Heinrich Wefing der Wandel der architektonischen Selbstdarstellung der Bundesrepublik im Spannungsfeld Berlin - Bonn analysiert. In den nächsten Beiträgen kommen die führenden Köpfe der Bundestags-Baukommission ebenso zu Wort wie Architekt Norman Foster. Ein vergleichender Blick vom Kapitol in Washington auf den Reichstag beschließt den Band. Neben der Fülle von Abbildungen im Text dokumentieren zwei umfangreiche Bildteile von Andreas Muhs den Abriß und Wiederaufbau.
Ganz auf Norman Fosters eigene Darstellung seines Reichstags-Projekts konzentriert ist der in Umfang und repräsentativer Aufmachung ähnliche Großband "Der neue Reichstag". Von den ersten Wettbewerbs-Überlegungen bis zum fertigen Bau schildert der Architekt seine Überlegungen, Pläne und die Modifizierungen des Entwurfs. Den Text ergänzt neben den Fotos vom entstehenden und fertigen Bau eine Fülle von Modellfotos, -zeichnungen und Ideenskizzen.
Bewahren und Zeigen historischer Strukturen, soweit sie erhalten blieben und mit den funktionalen Erfordernissen eines modernen Parlamentsbetriebes in Einklang zu bringen sind, bezeichnet Foster als eine seiner Hauptmaximen, breit dargestellt ist auch sein Energiekonzept der Ökologie. Gnadenlos geht Foster mit der "Verschlimmbesserung" des ersten Nachkriegs-Um- und Wiederaufbaus, mit dessen "Vandalismus der besonderen Art" ins Gericht. Ob sein Vorgänger Baumgarten solch radikale Kollegenschelte verdient hat, sollte zumindest gefragt werden. Im Zeitstil der 60er Jahre und mit weit weniger opulenten Mitteln hatte er durchaus seine eigene Konzeption von der "Transparenz" des Bauens in der Demokratie. Bei aller Ehrfurcht vor Wallots Ideen und (von Baumgarten immerhin hinter Rabitzwänden bewahrten) Architekturfragmenten hat gerade Foster, wie er schreibt, "das Gebäude von oben bis unten entkernt", und er hat damit drei Nachkriegs-Jahrzehnte der Reichstagsgeschichte architektonisch entsorgt. Fosters Ausführungen werden ergänzt durch Geleitworte von Wolfgang Thierse und Rita Süssmuth sowie fünf kürzere Artikel anderer Autoren zur Geschichte, Mythologie und Metamorphose des Reichstags seit 1871 und zum Vergleich mit anderen modernen Parlamentsbauten.
Speziell der Architektur von Norman Foster wendet sich auch Bernhard Schulz zu, der den Umbau mit vielen Artikeln im "Tagesspiegel" begleitet hat. Von den Grundprinzipien Fosters, denkmalpflegerischen Überlegungen und dem die Kuppel einbeziehenden ökologischen Energiekonzept bis zur künstlerischen Ausgestaltung erfährt man hier das Wissenswerte in komprimierter Form. Grundriß- und Schnittzeichnungen ergänzen die zahlreichen Fotos.
Was in den bisher besprochenen Bänden fehlt, ist eine Schilderung der vielfältigen parlamentarischen und technischen Funktionen, denen dieser offiziell "Plenarbereich Reichstagsgebäude" genannte Riesenbau mit seinen ihn umgebenden, noch unfertigen Ergänzungsbauten heute dient. Eben dies findet der Leser in dem weit schmaleren Band "Unter der Kuppel": Sein Autor Hans-Jürgen Heß, sachkundig als langjähriger Verwaltungschef im Reichstag, integriert die Darstellung in einen von Andreas Muhs bebilderten Besichtigungsgang von der Kuppel bis in den Keller des Reichstags, der bei ihm "Plenargebäude" heißt. Ein beschreibender Rundgang um den Riesenbau und die umgebenden Baustellen schließt sich an.
Ganz überwiegend aus großformatigen, vielfach sogar doppelseitigen Fotos besteht der Band "Die Kuppel der Nation" von Anja Lösel und Rudi Meisel. Vier Jahre lang haben die beiden "Stern"-Autoren das Geschehen im Spreebogen beobachtet und fotografiert. Am Anfang steht die spektakuläre Verhüllung durch Christo und Jeanne-Claude, es folgen die Stadien des Abrisses und Umbaues, am Ende sieht man die erste Sitzprobe des Bundeskanzlers im Plenarsaal und den Aufstieg des Volkes in die Spiralen der Kuppel. Ein Interview mit Norman Foster und neun Personenporträts ergänzen den Band. Sie reichen von der "Bauherrin" Rita Süssmuth bis zum Kuppel-Fensterputzer. Ein fast vergessenes Stück Geschichte repräsentiert dabei Mareile Van der Wyst: Sie wurde am 15. September 1944 im Reichstagskeller geboren - in der zum Schutz vor Bomben dorthin verlegten Gynäkologie-Abteilung der Charité.
Zum Schluß noch - "Über der Kuppel des Reichstags" - Blicke aus der Luft auf das "Zentrum der Berliner Republik", das hier vom Reichstag bis zum Schloß Bellevue und zurück von der Siegessäule bis zum Brandenburger Tor reicht. Zwischen 1993 und 1999 hat der Fotograf Reimer Wulf in zahlreichen "Höhenflügen" die baulichen Veränderungen festgehalten. Bernhard Schneidewind hat die Bildtexte (in Deutsch und Englisch) geschrieben und rekapituliert dazu, von der neuen Kuppel der Gegenwart zurück bis zur Gestaltung des Tiergartens durch Lenné seit 1818, in 17 Etappen die Geschichte dieses Bereichs. Das ist, so im zeitlichen Rückwärtsgang dargeboten, nicht ohne Reiz, aber vielleicht doch etwas verwirrend für den, der die chronologischen Überblicke in einem der anderen Bände nicht gelesen hat. Doch ob vorwärts oder rückwärts betrachtet: Alle sechs Bände zeigen am Beispiel des Reichstagsgebäudes auf unterschiedliche Weise, wie sehr die Demokratie der Gegenwart mit der wechselvollen Vergangenheit Berlins politisch und architektonisch verbunden ist.
Jürgen Schmädeke
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