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Die alte Normalität. Zwei Kinder umarmen sich in der Installation „With All My Love For The Tulips, I Pray Forever“ von Yayoi Kusama, 2018 in Los Angeles.
© Jae C. Hong

Die Kultur im Ausnahmezustand: Die Kunst kämpft um ihr Überleben – und wir hungern nach Inspiration

In der Pandemie brauchen wir neuen Stoff zum Träumen. Und Berlin braucht seine Künstler, selbst wenn diese gerade Pause machen müssen. Eine Intervention.

Eine Ausstellung – jetzt, wo sie gar keiner sehen kann? Inspiration aus einer anderen Welt, die unsere eigene spiegelt – jetzt, da wir gerade ganz andere Sorgen haben? Eine Sonderausgabe für die Kultur – jetzt, da sie gerade Pause machen muss. Ja, gerade jetzt. Denn Berlin braucht die Kultur wie die Luft zum Atmen – als Frischezufuhr für die eigene Freiheit.

Und die Stadt braucht ihre Künstlerinnen und Künstler, egal, ob sie auf einer Bühne spielen, auf der Straße singen oder auf einer Leinwand malen. Sie alle haben jetzt Pause in der Pandemie, können ihre Kunst nicht live und leibhaftig vor Publikum zeigen. Sie inspirieren uns online – und erinnern uns gerade dabei daran, wie sehr das fehlt: im Kino weinen, im Theater lachen, im Konzert tanzen, durch eine Ausstellung wandeln. Verreisen im Kopf in eine andere Welt, um neue Seiten an uns zu entdecken. Sich durch andere selbst anders zu sehen.

Eine, die über Grenzen und Begrenztheiten weit hinausschaut, ist die japanische Künstlerin Yayoi Kusama. Die 92-Jährige gilt als Pionierin der Gegenwartskunst, die mit ihren Bildern und Performances die Welt und sich selbst verwandelt. Im Berliner Gropius Bau ist nun eine große Retrospektive eröffnet worden, die Kusamas Entwicklung von frühen Gemälden und Skulpturen hin zu immersiven Erlebnisräumen nachzeichnet.

Erlebbar ist das ganze Werk in Zeiten der durchlebten Pandemie zunächst nur digital. Wir stellen besondere Werke der humorvollen Feministin, genialen Selbstvermarkterin und weltumspannenden Künstlerin auf Tagesspiegel.de aus und erzählen Geschichten aus dem Inneren der Welt, aus der Kunst gemacht ist und beständig neu gemacht wird.

Kultur insgesamt ist ein Wagnis, in dem im Heute vom Morgen noch nichts feststeht. Und waghalsig kam auch diese große Kusama-Schau zustande. In monatelangen Korrespondenzen zwischen ihrem Atelierstudio in Japan, europäischen Kuratorinnen und den Berliner Gastgebern wurde die Ausstellung gestaltet und die Eröffnung vorbereitet, dann wegen der Pandemie alles verschoben, neu justiert und umgewandelt. Nach mehr als einem lähmenden Jahr aber geht es für die Kunst ums Überleben. Und für alle Menschen um neue Momente der Hoffnung. Diese kann Kunst geben. Das kann sie uns, das soll sie uns gerade heute zeigen.

Der Geist braucht frischen Stoff zum Träumen

Ja, Gesundheit ist das Wichtigste. Und deshalb brauchen unsere Leben Abstand voneinander. Aber die Seele braucht Nähe, sucht nach neuen Bekanntschaften. Und der Geist braucht frischen Stoff zum Nachdenken, zum Träumen, zur Vergewisserung seiner selbst. Deshalb ist es so wichtig, dass Kunst und Kultur auch in der Pandemie überleben. Dass soloselbstständige Sängerinnen und Maler ohne ihr künstlerisches Einkommen auskommen. Dass auch die Gewerke in Kinos und Theatern ohne ihre Bühnen klar kommen.

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Denn all das sind Menschen, die gerade Berlin ausmachen – die sich von dieser zum Glück niemals fertigen, auf Sand und einem Haufen Geschichte gebauten Stadt inspirieren lassen und von hier aus die ganze Welt inspirieren. Mit dem Geist, dass aus und auf Altem immer Neues entsteht. Wenn man es zulässt und den Mut hat, sich auf Wagnisse einzulassen.

Klar, das Öffentliche fehlt. Die meisten Festivals des Sommers sind schon abgesagt, bei der Fete de la musique wird wieder nur in den Frühling gestreamt und nicht auf der Straße aufgeführt. Die Berlinale, vor nun schon 14 Monaten letztes Großereignis vor dem Lockdown, bangt und kämpft immer noch um ein paar Restaufführungen im Juni unter freiem Himmel.

Die Kultur als Folie einer Gesellschaft im Ausnahmezustand

Aber so lange nicht mal Schülerinnen und Schüler im Freien unterrichtet werden, so lange bleibt wohl auch diese Sehnsucht unerfüllt. Die Kultur muss warten – und wird damit zu einer Folie einer Gesellschaft im anhaltenden Ausnahmezustand. So wie die ganze Welt wartet und sich dabei (pandemisch brutal) weiterdreht. Dass dieses Leben in der Unnormalität nicht schleichend normal wird, auch dafür steht die Freiheit der Kunst. Und sie kann Wege aufzeigen zu neuen, nachhaltigeren Normalitäten und einem immer möglichen anderen Leben auf dieser, unserer Welt.

Welchen Wert messen wir unserem Leben bei, wie wird es lebenswert und bleibt besonders? Diese Frage stellt sich in der Pandemie noch einmal mit größerer Dringlichkeit für jede und jeden von uns. Yayoi Kusama hat auf diese einfach schwere Frage eine universelle Antwort gefunden: Jeder Mensch ist für sie ein Punkt im Universum. Deshalb durchziehen Punkte ihre Kunst, ob auf ihren Bildern, ihren Kleidern, im öffentlichen Raum, eben überall.

Jeder Punkt mag unscheinbar sein in der uns umspannenden Unendlichkeit, aber jeder Punkt hat einen Wert, der das Leben aller lebenswerter macht. So wie es die Kultur auch tut mit jedem einzelnen ihrer Beiträge. „Ich hoffe, dass die Macht der Kunst die Welt friedlicher machen kann“, so beschreibt Yayoi Kusama in ihrem bewegenden Kino-Biopic „Infinity“ ihr Lebenscredo. Bis ins höchste Alter steht sie dafür ein.

Eine Ausstellung, die uns Inspiration aus einer anderen Welt gibt und Hoffnung für unsere eigenen Lebenswelten schenkt – ja, gerade jetzt ist die richtige Zeit dafür. Horizonte sind dazu da, auch mal über sie hinwegzusehen. Und dahinter Neues zu entdecken. Zum Beispiel etwas, was man mit Schmerzen vermisst und auf das man sich von Herzen freut: Kunst und Kultur mitten in Berlin.

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