zum Hauptinhalt
Suche nach Anerkennung, Liebe und sich selbst: Eine Seite aus dem Band.
© Reprodukt

Avantgarde-Comic: Die Kunst des Fremdschämens

Satzfetzen wehen durch den Raum: Brecht Evens' Episoden-Comic „Am falschen Ort“ beeindruckt grafisch, erzählerisch provoziert das Buch aber ambivalente Gefühle.

Bunt und grafisch experimentell sind die Bilder, in denen der junge flämische Künstler Brecht Evens seine Geschichten aus dem Nacht- und Partyleben erzählt. Die Aquarelle haben etwas Verschwommenes, Flüchtiges, auch in ihrer Transparenz und der sich gelegentlich auflösenden Bildaufteilung. Ungewöhnlich ist die kubistisch inspirierte perspektivische Gleichzeitigkeit. Auch die fehlenden Sprechblasen fallen auf: Satzfetzen finden nur in der farblichen Zuordnung zu den Figuren etwas Halt und wehen mehr durch den Raum als dass sie wirklich Teil einer Handlung wären. Form und Inhalt verschmelzen auf diese Weise - denn auch die Dramaturgie bleibt unbestimmt, brandet kurz auf und versandet wieder.

Der zweite Band des Nachwuchsautors, mit dem dieser auch international auf Anerkennung stieß, löst durchaus ambivalente Gefühle aus. Das liegt zum Teil an der schonungslosen Art und Weise, Mechanismen und Muster des zwischenmenschlichen Miteinanders darzustellen: Die in verschiedenen Episoden wiederkehrenden Figuren um den schwerfälligen Gert und den bewunderten Robbie sind auf der Suche nach Anerkennung, Liebe, Erlebnissen und sich selbst. Manche bewegen sich sicher durch den Exzess, andere sind ängstlich darauf bedacht, zur richtigen Gruppe von Leuten zu gehören.

Der Leser wird Zeuge ihrer Versuche, sich oberflächlich zu profilieren, und der sich zwischen Banalität, Unsicherheit und Vulgarität bewegenden Gespräche. Fremdscham bis Beklemmung - wie im wirklichen Leben nicht immer angenehm, aber zielsicher hervorgerufen.

Dann wieder changiert der allzu genaue Realismus gelegentlich ins Märchenhafte. Robbie gerät zur Sagengestalt; ihm werden nicht nur in gespannter Erwartung seiner Ankunft auf der Party unglaubliche Geschichten angedichtet. Auch als er leibhaftig auftritt, wirken er und seine Umgebung samt Randfiguren wie einer Idealprojektion entsprungen. Vor dieser bleibt die eigentliche Hauptfigur Gert stets umso blasser und unorigineller; dass sie in Grau gehalten ist, passt natürlich, wenn es auch vielleicht ein bisschen überdeutlich daherkommt.

Dass den Bildern bei aller Farbigkeit etwas Düsteres anhaftet, unterstreicht das Schwanken zwischen Exzess und Kater; die sich auflösenden Konturen verstärken den geisterhaften Eindruck der Nachtschwärmer.

Ob dem Band eine Geschichte fehlt, oder ob diese gerade im unbestimmten Mäandern der Suchenden liegt, mag man sich aussuchen. So oder so, das zeigt der Effekt, scheint Evens zumindest auf gestalterischer Ebene zu wissen, was er tut. Ein Buch, das einen merkwürdig berührt und etwas ratlos zurücklässt.

Brecht Evens: Am falschen Ort, Reprodukt, aus dem flämischen Niederländisch von Andrea Kluitmann, Handlettering von Brecht Evens, 176 Seiten, 24 Euro. Leseprobe unter diesem Link.

Zur Startseite