Graphic Novel: Die kleinen Mädchen aus der Vorstadt
Die Berliner Zeichnerin und Autorin Aisha Franz hat mit „Alien“ ein bemerkenswertes Comic-Debüt veröffentlicht. Sie erzählt mit großem Einfühlungsvermögen von einem Tag im Leben dreier Frauen – und von einer unerhörten Begegnung.
Wollte man den Novellenanteil im Begriff Graphic Novel beim Wort nehmen, also im Sinne Goethes eine unerhörte Begebenheit als Zentrum erwarten, um welches sich die Erzählung entfaltet, so erfüllt „Alien“, das Debüt von Aisha Franz, diese Eigenschaft geradezu idealtypisch. Denn die Abschlussarbeit ihres Studiums der Visuellen Kommunikation an der Kunsthochschule Kassel, welche von Reprodukt nun als erste Buchveröffentlichung der inzwischen in Berlin lebenden Zeichnerin verlegt wird, setzt mit einer zweifellos außergewöhnlichen Irritation ein: Ein Luftballon fliegt durch eine menschenleere Reihenhaussiedlung und wird von einem jungen Mädchen aus ihrem Kinderzimmer entdeckt. Eilig begibt sie sich nach draußen, schlüpft in die Inlineskates und verfolgt den Ballon bis an den Stadtrand, wo sie ihn auf einem verlassenen Feld endlich erwischt. Allerdings erwartet sie dort ein noch weitaus gespenstischerer Fund: Denn zwischen den Halmen zeichnen sich deutlich Ohren und Schädelansatz eines fremdartigen Wesens ab.
Was hieraus folgt, ist jedoch weder E.T.-Variation noch der creepy horror einer Invasionsgeschichte, sondern eine Coming-of-Age-Story von ganz besonderer Güte. Bis die Identität des obskuren Funds, bei dem es sich um das titelgebende Alien handelt, überhaupt aufgeklärt wird, vergeht eine ganze Weile – zumindest für die Leser. Denn der Plot der über 200 Seiten beschränkt sich auf gerade mal einen Tag im Leben dreier weiblicher Figuren, die familiär aneinander gebunden sind: eine alleinerziehende Mutter und ihre beiden Töchter, deren größte Beziehung zueinander wohl darin besteht, dass sie ihnen immer mehr entgleitet.
Ein allgegenwärtiges Gefühl des Stillstands
Während sich die Mutter zunehmend im Geflecht aus stoischer Arbeitserfüllung, Wut über verpasste Chancen im Leben und Zwiegesprächen mit ihrem imaginierten zweiten Erfolgs-Ich verirrt, übt sich die ältere Tochter in frustrierenden sexuellen Erkundungen, die wenig mit Neugier, allerdings sehr viel mit Anpassung an männliche Vorstellungen von altersgerechtem Handeln zu tun haben. Die jüngere Schwester, von allen nur „Mädchen“ gerufen, bewegt sich schüchtern, begleitet von Tagträumen, und eher geduldet als geachtet durch dieses Ensemble und hadert mit einer kindlichen Sexualität, die sich, ganz manifest, an das rätselhafte, schweigende Alien knüpft, das sie unter großen Mühen in ihrem Zimmer versteckt hält.
Die unerhörte Begebenheit ist hier das Leben selbst. Alle drei Figuren befinden sich an einem Scheideweg, an dem - von der einen mehr, von der anderen weniger deutlich realisiert – das Alter den Schritt zur nächsten Statuspassage diktiert – oder nur noch hoffen lässt. Denn die Mutter muss mit dramatischen Folgen begreifen, dass kein Wandel mehr zu erwarten ist. Dieses allgegenwärtige Gefühl des Stillstands im Prozess, das sich unmittelbar in den Abnabelungsversuchen und der hilflosen wie eigennützigen Wiederbelebung alter Kindheitsfreundschaften der großen Schwester Bahn bricht oder der Mutter bereits die Konfrontation mit weiteren Spaziergängern auf dem Bürgersteig zum Bestandstest der inneren Stabilität werden lässt, gehorcht einem Zeichensystem dichotomer Gesetzmäßigkeiten.
Zeichnungen von trügerischer Leichtigkeit
In der Regel bleiben die Seiten streng gerahmt und umfassen vier Streifen mit je drei Panels, die aufgrund des Din-A5-Formats umso kleiner wirken. Hintergrund bleibt dadurch notgedrungen rudimentär, meist aber fokussiert der Bildausschnitt die Figuren so nah, dass für ausgearbeitete Hintergründe ohnehin kein Platz mehr übrig ist. Zur Befangenheit des Daseins gesellt sich die erdrückende Isolation im eingegrenzten Raum und dies ganz buchstäblich: die Orte, in denen sich die Figuren bewegen, sind von jederlei Reiz, der Inspiration oder gar Rettung versprechen könnte, bereinigt. Die schwarzweißen und im besten Sinne naiven Bleistiftzeichnungen transportieren eine trügerische Leichtigkeit, als wollten sie von den Abgründen der Figuren ablenken.
So entlädt sich im Stil förmlich ein Gestus der Befreiung, der von der festen Seitenarchitektur in Schach gehalten wird (vier der gerade mal sechs doppelseitigen Splashpanels präsentieren entweder reines Schwarz oder Weiß oder blicken durch die Maschendrähte eines Zauns), dessen ausgestellte Niedlichkeit aber wiederum nur eines verspricht: Aus dieser grotesken Welt, in der spazierende Mütter vielleicht nur Kaninchen in ihren Kinderwägen beherbergen, gibt es kein schadloses Entkommen. Und bei all dem sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass wir lediglich einen Tag im Kuriosum Vorstadt (und dem stets daran gekoppelten Kuriosum Familie) verbrachten – genug jedenfalls, um sie als unerhörte Begebenheit zu verstehen.
Aisha Franz: Alien. Reprodukt, 208 Seiten, 16 Euro. Leseprobe auf der Website des Verlages. Aisha Franz antwortete kürzlich auf unseren Comic-Fragebogen - was sie zu sagen hatte, steht hier. Und ihre Website findet sich hier.
Sven Jachmann
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