Preußens Baumeister Karl Friedrich Schinkel: Die Kette des Universums
Karl Friedrich Schinkel (1781 - 1841) war Architekt und Maler, Designer, Bühnenbildner und Volkserzieher. Mit seiner Kunst prägte er das Bild Preußens nachhaltig. Erstmals ist am Berliner Kulturforum nun die gesamte faszinierende Künstlerpersönlichkeit bis hin zum Privatmann zu erleben.
Der Blick konzentriert, die dunklen Augen aufmerksam fragend, um den Mund scheint ein Lächeln zu spielen. Das graue Haar bauscht sich genialisch über der Stirn, wie es damals Mode war. Die kräftige Nase stupst an ihrer Spitze vorwitzig nach vorn. Es ist das kleinste, aber markanteste physiognomische Merkmal dieses Mannes, mit dem die Forscher ihn bis heute, 200 Jahre später, auf Zeichnungen, Grafiken, großen gemalten Gesellschaftspanoramen aufzuspüren vermögen.
Hat man ihn erst einmal entdeckt auf einem seiner verborgenen Ich-Bilder – wie kürzlich erst auf jener zauberhaften Federzeichnung von einer Bootsfahrt auf dem Königssee bei Berchtesgaden aus dem Jahr 1811, als der auffällig gestikulierende Fahrgast mit Federhut –, dann scheint sich nochmals ein Stück des Geheimnisses zu lüften: Wer war Karl Friedrich Schinkel (1781–1841)? Was für ein Mensch steckt hinter dem Architekten, Maler, Bühnenbildner und Designer, dessen gigantisches Werk die Person überdeckt? Die Bootspartie unternahm Schinkel privat im mit seiner zum zweiten Mal schwangeren Frau Susanne, wie man heute weiß. Das Paar befand sich auf seiner verspäteten Hochzeitsreise.
Bilder: Die Schinkel-Ausstellung in Berlin
Dreißig Jahre nach der letzten großen Ausstellung dieses Berliner Hausheiligen versucht das Kupferstichkabinett mit einer Retrospektive, die über 300 Exponate umfasst, den Kosmos Schinkel neu zu erkunden. Als Privatperson tritt er nun hervor, als Erfinder eines nach vorn gerichteten Historismus, als künstlerischer Patriot, als früher Moderner im Design, als Bühnen-Aficionado – ein Gesamtkünstler par excellence. Drei Jahrzehnte Abstand geben nicht nur der Forschung einen anderen Dreh, die sich unerschrockener denn je der Figur auf dem hohen Sockel nähert und einst belastete Begriffe wie Historismus an seinem Werk angstfrei ausprobiert. Für Schinkel musste die Architektur „in die unzertrennliche Kette des ganzen Universums“ eingebunden sein, was ihm die Freiheit gab, aus dem Kontinuum der „Style“ zu schöpfen und je nach Bedarf gotisch, romanisch, sarazenisch zu entwerfen: nicht rückwärtsgewandt, sondern pragmatisch nach vorn gerichtet, denn nichts war dem Baumeister verhasster als „halb todte Lebendigkeit“. Zur Kunst wurde für ihn die Architektur erst durch den poetischen Anteil, „das Sinnlich-Harmonische“. Auf seiner Englandreise hatte er sich neue Bautechniken und Konstruktionsmöglichkeiten abgeschaut, als Feingeist aber strebte er die Überhöhung an.
Erstmals kommt nun eine Fülle an Stücken zusammen, wie sie damals zum 200. Geburtstag im geteilten Berlin nicht gezeigt werden konnte: Die Gemälde befanden sich in Schloss Charlottenburg, die Zeichnungen und Grafiken auf der Museumsinsel, die Bauwerke per se in Mitte, im Ostteil. Der Schnitt ging durch die Stadt und ein künstlerisches Werk, jedem seinen Schinkel. Umso emphatischer wird nun die ganze Figur umkreist, nicht nur mit einer Gesamtschau seines Werks in den Ausstellungshallen am Kulturforum, sondern auch durch Markierung seiner Bauten im Zentrum, an Bauakademie, Altem Museum, Schauspielhaus, Schlossbrücke, durch Führungen, Apps, ja selbst durch Sonderhinweise auf Schinkel-Rahmen, die sich in der benachbarten Gemäldegalerie befinden.
Der strenge Schinkel konnte zaubern
Die Ausstellung mit dem Titel „Geschichte und Poesie“ macht beides: Sie entmystifiziert die Figur und bedient sich zugleich der Legende. Gewiss, Schinkel war der workaholic, der Getriebene, der unermüdlich neue Entwürfe, Zeichnungen produzierte – für den König, zu dessen Hofarchitekt er ernannt worden war, für den Freund und Geheimen Oberfinanzrat Peter Christian Wilhelm Beuth, mit dem er die Kunstindustrie seines Landes vorantreiben wollte, indem er die Bauakademie mit ihrer neuartigen Eisenkonstruktion, der unverputzten Backsteinfassade und dem didaktischen Dekorationsprogramm schuf und Vorlagen für Geschirre, Vasen, Möbel entwickelte.
Doch seinen frühen Tod auf dieses enorme Arbeitspensum zurückzuführen, wie es bislang die Lesart seiner Vita war, verbietet sich heute aus medizinischer Sicht. Das letzte Wort behält trotzdem Schinkels behandelnder Arzt, der den elendig Sterbenden über ein Jahr begleitete. Sein als Buch verfasster Krankenbericht befindet sich in einer eigenen Vitrine. Das Erhabene und das Banale stehen hier unmittelbar nebeneinander – im Lebenszyklus wie im Schaffen des Künstlers, der die Deckendekoration einer Marzipanmanufaktur in Königsberg ebenso erdachte wie das großartige Schloss Orianda auf der Krim, das nie entstand.
Bilder: Die Schinkel-Ausstellung in Berlin
Zweifellos ein Höhepunkt auf beiden Ebenen sind die hinreißenden Bildnisse seiner drei Sprösslinge in ovalen Rahmen, einstmals in einem großen Gemälde vereint, später auseinandergeschnitten. Sie besitzen den gleichen Rang wie die Runge’schen Kinderporträts. Seit ihrer Versteigerung Mitte der neunziger Jahre sind die drei Bilder nun erstmals wieder öffentlich in Deutschland zu sehen; nur ungern wird man sie nach der zweiten Ausstellungsstation in München wieder in die USA zurückkehren lassen.
Schinkel tritt mit dieser umfassenden Ausstellung nicht wirklich als ein anderer hervor. Eine dramatische Neubewertung war kaum zu erwarten. Doch stellt sich das Bild von ihm nun gerundeter, komplexer dar, weil allen seinen Betätigungsfeldern gleichermaßen recht getan wird. Das Panorama eines überreichen Künstlerlebens bietet sich in neun Tableaus dar, farblich voneinander abgesetzt. Das Schwarz gehört den Bühnenbildern, die in ihrer Farbenpracht vor dem dunklen Hintergrund besondere Wirkung entfalten. Das passt, zumal zum Auftritt der Königin der Nacht vor gestirnter Himmelskuppel. Die großartige Rauminszenierung besitzt selbst en minature auf Papier noch für ein heutiges, an megalomane Kunstinstallationen gewöhntes Publikum enorme Suggestionskraft.
Der strenge Schinkel konnte zaubern. Mit jedem neuen Theaterstück, jeder Oper weitete er den Horizont, holte er die Welt nach Berlin. Der Norden, Osten, Südamerika eröffneten sich mit dem Vorhang. Und wer nicht ins Theater ging, besuchte als Clou die optischen Schaubilder mit beweglichem Personal, besonders beliebt in der Vorweihnachtszeit.
Für die Ausstellung wurde nun die Szene vom Brand Moskaus als Schaubild rekonstruiert, mit der Schinkel nur wenige Wochen nach dem historischen Ereignis vor genau 200 Jahren sein Publikum in den Bann schlug. Vermeintliche Flammen lodern im Hintergrund, knisternde Geräusche, Rufe werden laut, Papierfigürchen laufen vorneweg, Truppen ziehen rechts und links über eine Brücke. Dem heutigen Besucher kann dies zwar kaum imponieren, ein nettes Spiel, das damalige Publikum aber erkannte darin den historischen Wendepunkt für Europa: Napoleons zersprengte Truppen traten via Berlin den Rückzug an, das winterliche Moskau war für sie zur Falle geworden, der Anfang vom Ende eines Imperators.
So erhält die große Retrospektive am Ende doch noch ihren Jubiläumstermin. Als eigentlicher Anlass aber gilt der Abschluss eines vierjährigen Forschungsunternehmens, bei dem die Schinkel-Bestände des Berliner Kupferstichkabinetts – 5500 Zeichnungen, Aquarelle und Gouachen, 500 druckgrafische Arbeiten und damit fast der komplette Gesamtnachlass – digitalisiert wurden. Der gigantische Umfang ist einer Initiative König Friedrich Wilhelms IV. zu verdanken, der kurz nach dem Tod seines Hofarchitekten den Nachlass für den preußischen Staat ankaufen ließ. Bei diesem enormen Konvolut lässt es sich großzügig sein. In der letzten Sektion werden auch Abschreibungen gezeigt: etwa jenes berühmte Kaufhaus Unter den Linden, das nicht aus der Hand des Meisters stammt, sondern von einem Mitglieds seiner Werkstatt. Mag sein, für ihn war dies doch zu modern.
Sonderausstellungshallen Kulturforum, Matthäikirchplatz, bis 6. Januar; Di, Mi, Fr 10–18 Uhr, Do 10–20 Uhr, Sa/So 11–18 Uhr. Katalog (Hirmer-Verlag) 39,90 € bzw. 25 €.