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Zwischen Hamburg und Ostafrika: Eine Szene aus dem Buch.
© Illustration: Weyhe/Avant

Graphic Novel: Die Kette des Lebens

Für jedes Schicksal ein eigener Strich: Die Zeichnerin Birgit Weyhe führt in „Reigen“ mit klug konstruierten Episoden durch das 20. Jahrhundert.

Zehn Lebensgeschichten, wie an einer Perlenkette aufgereiht, zusammengehalten von der Schilderung des Wegs einer  Taufkette, die über ein Jahrhundert hinweg von Hand und zu Hand geht: Birgit Weyhes „Reigen“ ist eine klug konstruierte und zeichnerisch sensibel umgesetzte Erzählung, die die bislang nur Insidern bekannte Hamburger Illustratorin und Comicautorin endlich auch einem größeren Publikum bekannt machen dürfte.

Ihre ersten Arbeiten – der von märchenhaften Elementen durchzogene Afrika-Reisebericht „Ich weiß“ und mehrere auffallend gut erzählte Kurzgeschichten – waren im exklusiven Mami-Verlag der Zeichnerin und Hochschulprofessorin Anke Feuchtenberger erschienen. Dessen künstlerisch anspruchsvolle Werke sucht man im Buch- oder Internethandel vergeblich. Weyhes neues Buch hingegen ist im Berlin Avant-Verlag erschienen und damit über die regulären Vertriebskanäle zu bekommen.

Über Kontinente und Zeiten hinweg

„Reigen“ beginnt in den 1950er Jahren mit den Erinnerungen einer kanadischen Rentnerin, die als junge Frau die Kette mit einem Marienbild ihrem Mann auf die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs mitgab. Von dort gelangt die Kette in die Hände einer Französin, die unter deutscher Besatzung zu Heldin wird. Ein deutscher Soldat, eine junge Hamburgerin in der entbehrungsreichen Nachkriegszeit und eine alte Dame sind die nächsten Besitzer.

Kriegserinnerungen: Der Stil der Zeichnerin ändert sich von Episode zu Episode.
Kriegserinnerungen: Der Stil der Zeichnerin ändert sich von Episode zu Episode.
© Illustration: Weyhe/Avant

Als die Kette vorübergehend in den Besitz zweier Kenianer gelangt, nutzt die 1969 geborene Autorin, die ihre Kindheit und Jugend in Ostfrika verbracht hat, das elegant für einen Exkurs über die politischen Umbrüche und die besondere Rolle von Frauen in der Region. Die letzten zwei Stationen der Kette bieten den Rahmen für eine anrührende Vater-Tochter-Episode, in der die Autorin den richtigen Ton für die Schilderung einer familiären Entfremdung findet.

Ausbalanciert wie ein Mobile

Für jede ihrer Figuren, aus deren Leben ein paar Schlüsselepisoden geschildert werden, findet die auch als Malerin tätige Weyhe eine besondere Bildsprache und einen eigenen Ton. Mal wirken ihre Zeichnungen klar, handgemacht, manchmal fast naiv. Szenen voller Leid und Entbehrung hingegen, vor allem die Schilderung der Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs, erzählt sie in kratzigen, dreckig wirkenden Tuschebildern, die Assoziationen an Blut und Matsch wecken.

Panorama des 20. Jahrhunderts: Das Buchcover.
Panorama des 20. Jahrhunderts: Das Buchcover.
© Avant

Die Episoden sind fein ausbalanciert wie ein Mobile, die  Figurenzeichnungen sind einfühlsam auf die Charaktere abgestimmt. „Reigen“ ist ein persönlich wirkendes, doch von universell gültigen Erkenntnissen durchzogenes und Generationen wie Kontinente verbindendes Panorama des 20.  Jahrhunderts – meisterhaft.

Birgit Weyhe: Reigen, 190 Seiten, Avant, 19,95 Euro

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