Kultur: Die Katze mit den neun Schwänzen
Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker spielen Beethovens Symphonien
Sieben Jahre ist es jetzt her, dass Simon Rattle bei den Berliner Festwochen seine Sicht auf Ludwig van Beethoven darlegte – und das hieß vor allem, im unmittelbaren Schlagschatten des 11. September: seine Zweifel daran, dass aus dem Klassischen heute noch irgend Erbauliches, Erhebendes zu generieren sei. Beethovens Symphonien als neunschwänzige Katze, der Selbstgeißelung anheimgegeben für alle politischen und/oder ideologischen Verfehlungen, an der die Musik die Menschheit nicht hat hindern können. Im rasselnden Räderwerk der (frühen) schnellen Sätze ließ hier ein ins Orffsche Schulwerk gesteigerter Haydn schön grüßen, und später fuchtelte gar Gustav Mahler aus der Ferne mit dem Stock: in einem steifbeinigen Trauermarsch-Allegretto (Siebte), im regelrecht ausgeschabten Adagio der Neunten. Beethoven unterm Röntgenstrahl, vorläufige Diagnose: unheilbar gesund.
Damals spielten die Wiener Philharmoniker, die in ihrem kulinarisch-sahnigen Selbstverständnis keineswegs von allem überzeugt schienen, was dem Briten konzeptionell vorschwebte. So wirkte manches Tempo doch arg gegen den Musikerstrich gebürstet, manch ruppige Klanglichkeit nur widerwillig vollzogen. Jetzt, für zwei Konzerte in der Philharmonie, sitzen die Berliner an den Pulten, auf die Zweite und Dritte in dieser Woche folgen nächsten Donnerstag, Freitag und Sonnabend die Achte und Sechste, jeweils garniert mit einem, respektive zwei Webernschen Feigenblättchen (den Variationen für Orchester op. 30 sowie den Liedern op. 13 und der Symphonie op. 21). Einkehr, ja Heimkehr auf sicherem Terrain?
Um es vorwegzunehmen: Der Charakter des Rattle’schen Zugriffs hat sich nicht groß geändert, da mag uns die globale Terrorgefahr inzwischen noch so vertraut sein. Nach wie vor mutet sein Beethoven-Spiel an, als rühre er die landläufig nötigen ästhetischen Zutaten (ein bisschen Rhetorik aus der historischen Aufführungspraxis, kleine Besetzung, scharfe Transparenz) in einen Dampfkochtopf und drehe das Ganze auf höchste Hitzestufe. Ab und zu lupft er dann den Deckel, zum Druckablass und auf dass es kräftig qualmt und zischt. Entsprechend herrscht im Kopfsatz der zweiten Symphonie an diesem Abend viel munterer Schlachtenlärm, die Forti plärren, und die Geigen haben schwer am Frosch zu tun. Aber sehr schön, die Emphase in der Coda, und geradezu betörend, in welchem Timbre die Philharmoniker das Larghetto angehen, den zweiten Satz: Als würde eine Rokoko-Puderquaste über dem Podium zerstäubt ...
Im Scherzo hingegen – wie auch in den raschen Sätzen der „Eroica“ nach der Pause – gibt Rattle wieder ganz den Zuchtmeister und Grimasseur. Keine Modulation, nicht die kleinste rhythmische Rückung entschlüpft ihm gestisch unkommentiert, alles und jedes wird gestaltet, geknetet, grimmig in Förmchen gepresst. Das Problem dabei (abgesehen davon, dass jedes Trommelfeuer auf Dauer ermüdet): Musik in dem Sinne, dass sich das Geschehen wenigstens momentweise verselbständigte oder auch die wirklich fabelhaften Philharmoniker einmal das Wort ergriffen, ereignet sich so nicht.
Kaum je dürfen Beethovens musikalische Gedanken über die Abgründe des Heroischen hier atmen, Übergänge interessieren Rattle nicht, er häkelt aneinander, was doch auseinander strömen müsste – und das nicht sonderlich präzise. Gewiss, der berühmte Trauermarsch kommt in berückender Schwärze daher, auch wird einem seine Struktur geradezu überdeutlich vor Ohren geführt. Das Licht aber fehlt, der Gegensatz, kurz: eine Spannung, die mehr ist als nur artifiziell, nur erklügelt. Was eben fehlt und sich so schwer fassen lässt, ist jener Schicksalston, der ein Lot senkte in die Seele der Partitur, jenes Wissen, das sich selbst vergisst. Dass Simon Rattle diesen Ton weder erjagen will noch je erjagen wird, macht das philharmonische Beethoven-Bild nicht bunter und nicht reicher.
Christine Lemke-Matwey
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