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Man muss schon selbst hinaufsteigen, um die Berge zu sehen (hier: Aletschgletscher und Jungfrau). Bahnfahren bietet keinen Ersatz mehr.
© imago/GFC Collection

Gotthard-Basistunnel: Die im Dunkeln sieht man nicht

Jetzt fährt die Bahn durch den Gotthard-Basistunnel: Wie die Alpen auf der Reise gen Süden verschwinden.

Seit knapp einer Woche rollt planmäßiger Bahnverkehr durch den Gotthard-Basistunnel. Störungen wurden nicht gemeldet, sind allerdings auch bei den Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) nicht zu erwarten. Ihre Zuverlässigkeit ist ebenso sprichwörtlich wie ihre Pünktlichkeit.

„Technische Störung am Triebkopf“ oder auch nur der „Ausfall der Klimaanlage“ – um zwei beliebte Verspätungs-Erklärungen der Deutschen Bahn zu zitieren – wären denn auch von Übel, würden sie sich innerhalb des 57 Kilometer langen Tunnels ereignen.  Die Durchfahrt durch den Tunnel dauert zwar nur zwanzig Minuten, aber wenn ein Zug mittendrin liegen bliebe! Jedes Schreckensszenario ist zwar hinlänglich geübt worden, die Aufnahme des Regelbetriebs erfolgte aus gutem Grund erst ein halbes Jahr nach Fertigstellung des Tunnels.

Doch ausmalen möchte man sich nicht, dass einige hundert verängstigte Passagiere durch die mittige Rettungsröhre evakuiert werden müssten. Obwohl:  Schweizer Präzision würde auch solches Ungemach meistern. Tatsächlich ist der Fall bereits am ersten Betriebstag eingetreten: Ein Güterzug blieb stecken, wie man bei Tunneln sagt.  „Stecken“ bleibt allerdings kein Zug; er steht nur in der Röhre. Und da für Gleiswechsel gesorgt ist, konnte ein nachfolgender Personenzug aufs andere Gleis ausweichen. In der Wahrnehmung der Reisenden passierte – nichts.

Schneebedeckte Kämme sind vom Zug aus nicht mehr zu sehen

Etwas anderes ist festzuhalten, weil es nunmehr Wirklichkeit geworden ist; etwas, das sich nie mehr zurückdrehen lässt: das Verschwinden der Alpen aus dem Bewusstsein. Ihre schneebedeckten Kämme sind vom Zug aus nicht mehr zu sehen, weder von Nord noch von Süd. Das erhebende Gefühl, sich in meisterlich gebahnten Kehren auf eine Höhe emporzuschrauben, auf der man die Bergspitzen in voller Pracht erblickt, um dann den Tunnel auf Scheitelhöhe zu durchstoßen wie beim „alten“ Gotthard-Tunnel oder gar auf der Passstraße in jene höchsten Regionen selbst vorzudringen, bevor der Lohn in Gestalt der Abfahrt ins wärmende Tal winkt, dieses Gefühl verschwindet aus dem Alltag der Schnellbahnbenutzer.

Seine höchste Höhe über dem Meeresspiegel erreicht der Basistunnel mit lächerlichen 550 Metern, so viel wie irgendein sanfter Hügel in den entfernten Ausläufern des Hochgebirges. Dass sich darüber bis zu 2300 Meter Bergmassiv türmen, ist eine abstrakte Zahl allein für die Statistik: Zu sehen oder auch nur zu erahnen ist die Gesteinslast nicht.

Der Gotthard spielt im schweizerischen Kollektivbewusstsein eine besondere Rolle. Er verbindet den deutschsprachigen Norden mit dem italienischen Süden. Er hält die beiderseits der alpinen Wasserscheide gelegenen Kantone zusammen. Er ist eine nationale Klammer, einst dazu ausersehen, das Rückgrat der helvetischen Selbstverteidigung im Falle eines nazideutschen Überfalls zu bilden, jenes sagenhafte „Alpenreduit“, vor dem Hitler angeblich so großen Respekt hatte.

Jedenfalls lebt der Mythos des Gotthard bis heute fort, wird nun allerdings zunehmend überlagert vom Stolz auf die jedes Hindernis überwindende, jede Distanz zusammenpressende Ingenieurskunst der Schweiz, die den Aufstieg des Landes zur europäischen Verkehrsdrehscheibe ermöglicht hat. „Wir haben aus dem Gotthard ein Symbol an Innovation, Präzision und Zuverlässigkeit der Schweiz gemacht“, erklärte SBB-Vorsitzender Andreas Meyer nach der erfolgreichen Betriebsaufnahme mit einer technokratischen Gefühlsarmut, wie sie einem Manager eigen sein mag, dem emotional hochbedeutenden Anlass jedoch denkbar unangemessen war.

Eine U-Bahn für die ganze Schweiz?

Immerhin hatten kluge Köpfe bei den SBB die Geschichtlichkeit der Stunde erkannt, als sie die Finanzierung eines Begleitbuches sicherten, das Forschern der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich und der Universität der Italienischen Schweiz einige Jahre lang Arbeit bescherte und nun auf 982 Seiten und dreieinhalb Kilo Papier alle Aspekte des meisterlichen Tunnels beleuchtet.

Dass dieser den momentanen Längenweltrekord hält, ist im Übrigen eine Nebensache; denn mögen dereinst auch chinesische Ingenieure noch tiefer und weiter bohren – Pläne für die 123 Kilometer lange Untertunnelung einer Meeresbucht liegen vor –, an der grundsätzlichen Bedeutung des Gotthard-Basistunnels wird dies kein Jota mindern. Der Bedeutung nämlich, dass mit seiner Inbetriebnahme die Alpen als Grenze, als Bewegungshindernis letztgültig erledigt sind. Es gibt sie schlicht nicht mehr. Es gibt nur mehr 20 Minuten Tunnelfahrt.

Kann es verwundern, dass in der Schweiz seit einigen Jahren der Vorschlag kursiert, das ganze Land mit einem „Swiss Metro“ genannten Tunnelsystem für Hochgeschwindigkeitskabinen zu durchziehen? Das Verschwinden der Alpen ist nur ein erster Schritt auf dem Weg zum Verschwinden jeglicher Geografie. Zum Verschwinden aus der Wahrnehmung und damit nicht nur aus der strategischen Planung von Verkehrswegen, sondern auch aus der Alltagssituation einer Wochenend-Ausflugsentscheidung. Warum nicht mal eben im Tessin spazieren gehen? Es ist vielleicht kein Zufall, dass in Zürich – der Stadt der Banken-„Gnome“ – im Mai 1980 die „Opernhauskrawalle“ stattfanden, bei denen die Linksautonomen skandierten, „Weg mit den Alpen! Freie Sicht aufs Mittelmeer!“

Ein Spruch, fast so schön wie das aus dem Pariser Mai ’68 stammende „Unterm Pflaster liegt der Strand“. Die Schweiz hat kein Pflaster, sie hat Alpen aus mal härterem, mal poröserem Gestein; den freien Blick verwehren sie allemal. Was sie nun aber, Gotthard-Basistunnel sei Dank, nicht länger verwehren, ist die freie Fahrt von Zürich nach Mailand. Und vice versa. Zwanzig Minuten Röhre, mehr ist nicht übrig von den einst so furchteinflößenden Alpen.

Marianne Burkhalter, Christian Sumi (Hrsg.): Der Gotthard. Il Gottardo. Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 2016. 984 S. m. zahlr. Abb. u. DVD, Großformat, 97 €.

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