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David Cronenberg im Mai 2014 in Cannes.
© dpa

David Cronenbergs heftiges Roman-Debüt: "Verzehrt": Die Hölle kann warten

David Cronenberg, Meister der Body-Horror-Filme, hat mit 71 seinen ersten Roman geschrieben: "Verzehrt" erzählt höchst unterhaltsam von triebgesteuerten Altphilosophen, markensüchtigen Jungjournalisten, absonderlichen Krebschirurgen - und vom Kannibalen in uns.

Mal ehrlich, die letzten Filme von David Cronenberg waren nicht wirklich prickelnd. „Maps to the Stars“ floppt gerade im Kino: eine zahnlose Anti-Hollywood-Satire, aus der allenfalls die Angst aller Generationen vor dem Altern in Erinnerung bleibt. „Cosmopolis“ (2012), nach einem Roman von Don DeLillo: eine zähe Abrechnung mit dem ach so öden Turbokapitalismus, und der blasse Schönling Robert Pattinson dauerfläzt sich in der denn doch klaustrophobischen Szenerie einer Stretchlimo. Und vorher waren da der Freud-Jung-Kostümfilm „Eine dunkle Begierde“ und der taffe Russenmafia-Thriller „Eastern Promises“ (2007): nicht übel beide, aber irgendwie nicht besonders Cronenberg. Und nun das.

David Cronenberg, der die Zeitgenossen einst mit „Die Fliege“, „Crash“ und „eXistenZ“ unerhört unverwechselbar das Gruseln über sich selbst lehrte, hat einen 400-Seiten-Roman geschrieben, seinen Erstling mit 71 Jahren. Acht Jahre hat der Großmeister der Body Horror Picture Shows an diesem Werk gearbeitet, und keck schiebt er in Interviews hinterher:„Ich wollte immer Schriftsteller sein, nicht Filmemacher. Das Kino hat mich davon abgelenkt.“ Ob er also bei seinen letzten Filmen nur ein bisschen abgelenkt war von etwas, das er verdammt konzentriert und fantasiewild wie in seinen besten Zeiten zu Papier gebracht hat? Egal, David Cronenberg ist wieder da.

In „Consumed“ – der Verlag hat sich aus den schön schillernden Übersetzungsmöglichkeiten von „Konsumiert“ über „Verbraucht“ bis „Aufgebraucht“ für ein mittelfeldgraues „Verzehrt“ entschieden – gibt es zum Beispiel keine Jammerlappen von 13 bis 53, die sich vorm Altwerden fürchten. Sondern das geradezu hochgerüstet rüstige Pariser Philosophen-Ehepaar Célestine (62) und Aristide Arosteguy (67). Mit ihrer Theorie des Konsumismus – „Die einzig wahre Literatur der modernen Zeit ist die Betriebsanleitung“ – sind sie zu Kult-Philosophen avanciert und legen in „Privat-Tutorien“ willige Studenten flach. Behilflich ist diesen Sartre/Beauvoir-Wiedergängern dabei die eifersuchtsmindernde Einrichtung der „Philosospasmen“, einer gewissen Zahl jeweiliger Seitensprünge pro Jahr.

Cronenbergs gruselige, grässliche, großartige Kombination von Sex & Crime

Auch die nächstjüngere Generation geht ähnlich umsichtig und jobstrategisch mit den Versuchungen des Fleisches um. Das Paar Nathan und Naomi (beide 31), er Medizinreporter mit beeindruckendem Kamera-Equipment, sie Promi- und Modefotografin mit weitergehenden Recherchebedürfnissen, jettet auf der Jagd nach guten, also: bösen Geschichten um die Welt. Und weil man, zwar digital dauervernetzt, sich allenfalls mal bei Zwischenstopps in Flughafenhotels begegnet, bewerkstelligen beide den Austausch von Körperflüssigkeiten gern investigativ – als embedded fucking journalists, so lange es der Wahrheitsfindung dient.

So viel zum Sex. Da bleibt das Crime nicht fern. Und die so gruselige wie grässliche wie großartige Cronenberg’sche Kombination aus beidem. Ja, der frische Altmeister geht passagenweise so heftig zu Werke, dass sich vornehmlich Hardcore-Chirurgen „Consumed“ zu Weihnachten schenken sollten. Wobei die eigenverantwortliche Lektüre bedenkenlos zu empfehlen ist –sagen wir, ab 18 und eher nicht auf nüchternen Magen. Cronenberg selbst verbreitet zwar, fünf Filmproduzenten rissen sich bereits um den Stoff. So einfach aber dürfte sich manche Szene, selbst unter Aufbietung avanciertester CGI-Tüfteleien, gar nicht illustrieren lassen. Und überhaupt: Die Hölle kann warten.

Cronenberg treibt seine Story linear voran

Denn Célestine – so viel zum Ausgangspunkt des Erzählers, der ziemlich konsequent Schuss-Gegenschuss-like zwischen den Recherchen Nathans und Naomis wechselt – ist tot, jedenfalls wahrscheinlich. Verspeist von ihrem Ehemann. Und vielleicht noch ein paar anderen. Weshalb Arosteguy, dem Naomi bis ins Bett nachsteigt, sich offenbar nach Tokio abgesetzt hat. Während Nathan, der sich beim Budapester „Mitleidsfick“ mit einer lebensdurstigen Brustkrebspatientin mit einer ausgestorben geglaubten Geschlechtskrankheit namens Roiphe ansteckt, in Toronto mit dem Namensgeber der Krankheit und seiner extrem attraktiven Tochter an einem Buch arbeitet, das – oha! – „Verzehrt“ heißen soll.

Doch keine Sorge, Cronenberg behelligt seine Leser nicht mit pirandellösen oder gar calvinoesken Formalspielereien. Sondern treibt seine Story, abgesehen von einer langen Rückblende aus der Perspektive Arosteguy, absolut linear voran. Abgesehen vom dauernden Schauplatzwechsel mit süffig gesetzten Cliffhangern setzt er – Cronenberg sieht sich hier als Regisseur, Kameramann, Ton- und Lichtsetzer, Setdesigner und Kostümbildner in Personalunion – stilistisch immer wieder mit persiflierender Lust auf die Detailverliebtheit und Adjektivsucht des Trivialromans. Das liest sich dann etwa so: „Dr. Molnár wirbelte hinüber zur anderen Seite des Operationstisches, vorbei an offen stehenden und vergitterten Fenstern, durch die das leise, insektenartige Brummen der Straße und ein paar Spritzer Morgenlicht hereindrangen, das sich auf den schmutzigen und abbröckelnden Wandfliesen abzeichnete.“

Product Placement? Klar, auch mal gegen die Marke

Vor allem aber sind Naomi und Nathan, deren Recherchewege im Verlauf des sich ziemlich irre zuspitzenden Geschehens final ins Nordkoreanische streben, totale Markenfetischisten und Technik-Nerds. Und darin ihrem Erfinder und vielen zeitgenössischen Lesern wohl nicht unähnlich. Wobei das Product Placement vor allem in Sachen Apple und Nikon sich schon mal ironisch gegen die Marke wendet. Zum Beispiel schwört Naomi auf ihr Blackberry Q10, schließlich könne man auf einem iPhone „mit ordentlichen Fingernägeln“ gar nicht richtig tippen. Und als das junge Cyberpaar endlich ein Analog-Date in einem Hotel am Amsterdamer Flughafen Schiphol zustandebringt, gehört das Augenmerk des Erzählers und seiner Helden zunächst den in der Zimmerecke abgestellten „Samsonite-Cruisair-Spinner-Koffern mit Carbonimitat-Oberfläche“ und dem gemeinschaftlichen Bedauern darüber, dass man sich die „sexy verbeulbaren“ Rimowa-Aluminiumdinger aus Deutschland einstweilen noch nicht leisten kann.

Buchcover zu David Cronenbergs Roman "Verzehrt".
Buchcover zu David Cronenbergs Roman "Verzehrt".
© promo / Verlag

Um die Bedienbarkeit von Oberflächen geht es in „Consumed“, um das schnelle Abtasten von Zusammenhängen, um digitales Multitasking und allerhand Analogpannen, mithin um eine extrem zeitgemäße Wahrnehmungswelt. Auch Haut ist eine solche Oberfläche, und ihren Veränderungen, (Selbst-)Verletzungen und anderweitigen Monstrositäten gilt – wie schon in seinen besten, schlimmsten Kinostücken – Cronenbergs besonderes Augenmerk. „Ich kann eine Seele nicht filmen“, hat er einmal im Tagesspiegel-Interview gesagt; aber über Seele mag er, wie sich nun zeigt, auch nicht schreiben. Oder nur ausnahmsweise. Da aber hat die mechanistische Kälte des Erzähltons die Empathiefähigkeit des Lesers längst gekillt.

Faszinierend ist solch konsequentes Schreiben allemal. Und spannend, komisch, hochunterhaltsam. Nur nix für die Ewigkeit. Es sei denn fürs Nirwana, und das liegt wahrscheinlich - Cronenberg-Leser wissen mehr - irgendwo in Nordkorea.

David Cronenberg. Verzehrt. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Tobias Schnettler. Fischer Verlag, Frankfurt/Main. 397 Seiten, 22,99€.

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