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Fotograf Boris Mikhailov: Die Heiligen aus der Gosse

Von Charkov nach Berlin: Begegnung mit dem ukrainischen Künstler Boris Mikhailov, dem die Berlinische Galerie eine große Retrospektive widmet.

Riesengroß hängt es über dem Wohnzimmertisch in Boris Mikhailovs Wohnung, dieses merkwürdige Paar im russischen Winter. Es kommt aus einer anderen Welt, fern der Wilmersdorfer Behaglichkeit. Er mit nacktem Oberkörper, einen Lenin auf die Brust tätowiert, sie im langen Mantel, schräg an den Baum gelehnt, in dessen übergroßem Astloch ihr Partner mit glasigen Augen sitzt. Diesem Josef aus der Gosse und seiner Maria fehlt nur das Jesuskind. Die beiden sind ein starkes Paar in ihrer Erbarmungswürdigkeit – mit den vom Alkohol verquollenen Gesichtern und den verfrorenen Händen. Sie haben das Zeug zum Klassiker, zur Inkunabel, denn die Aufnahme erfasst zugleich einen Moment von Größe und Untergang, Würde und Verlorenheit. Das Porträt der Obdachlosen aus Charkov bildet die ganze Tragik eines Landes ab, Ende der Neunziger, die Verarmung des ukrainischen Mittelstands, die Auflösung aller Bindungen, eine Gesellschaft im freien Fall.

Boris Mikhailov erinnert sich noch gut, wie er Tanja und Anatolij vor 15 Jahren traf. Der Mann entblößte stolz die Brust und wollte seine Jugend zeigen, seine Stärke und Gesundheit, obwohl schon zu erkennen war, welcher Weg für ihn vorgezeichnet war. Oder hießen sie Svetlana und Juri? Auch Mikhailovs Frau Vita weiß es nicht mehr genau, aber als Figuren blieben die beiden ihnen nahe. Sie machten Karriere in der Kunstwelt, das Bild reiste zu internationalen Ausstellungen, begleitete Mikhailov zur Verleihung der zahlreichen Fotopreise, die er seither erhielt, als Botschafter einer anderen Sphäre.

Mikhailov weiß nicht, ob sie noch leben, ob sie die Kälte, den Alkohol, die Verwahrlosung überstanden haben. Der Fotograf verbrachte nur einige Tage mit ihnen und den anderen, die er für seine Serie „Krankengeschichte“ porträtierte – nach seinem einjährigen DAAD-Aufenthalt in Berlin. Das Kapitel Charkov war für ihn damals noch nicht abgeschlossen, immer wieder kehrte er dorthin zurück. Aber auch die deutsche Kapitale hat ihn nicht mehr losgelassen: Seite Mitte der Neunziger pendelte er zwischen seiner Geburtsstadt und Berlin. Vor sechs Jahren erhielt er ein Visum, nun lebt er in Wilmersdorf – mit Tanja und Anatolij an der Wand.

Das Bild wird in seiner Retrospektive in der Berlinischen Galerie zu sehen sein, wie die vielen anderen Serien, mit denen er seinen Ruf als wichtigster Fotograf eines untergegangenen Reichs gefestigt hat, eines Humanisten mit der Kamera, eines Dokumentaristen, der die Porträtierten seiner Sozialstudien nie dem Gespött ausliefert hat, sondern sie mit großer Anteilnahme begleitet.

Dass der 73-Jährige mittlerweile in Berlin angekommen ist, lässt sich an seiner jüngsten Serie ablesen, „In the Street“. Diesmal sind es die Berliner, die er entdeckt. Er zeigt ältere Paare, wie man sie im Westteil der Stadt überall trifft, zwei Frauen beim Kaffee an einem Stehtisch am Prager Platz, ein Ehepaar am Mehringplatz, sie im geblümten Hosenanzug, er mit Gesundheitsschuhen und grauem Blouson. Stünde nicht das Datum der Aufnahmen daneben, würde man sie für Bilder aus den achtziger Jahren halten: die Kleidung, die IBA-Bauten, irgendwie scheint die Zeit stehengeblieben zu sein.

Mikhailov hat ein feines Gespür für seine Umgebung. In Berlin sieht er immer noch die Spuren des Kriegs, sagt er. Für die nächsten Bilder will er in den Ostteil der Stadt gehen. Die Verständigung erfolgt mit Blicken und Gesten, Deutsch spricht er nicht. Aber man kann sicher sein, dass der Fotograf auch in Prenzlauer Berg Menschen findet, die mit den Veränderungen nicht Schritt halten können, die entgleiten, wie jener Obdachlose, den er am Ku’damm beim Kirschenessen entdeckte: auch so ein merkwürdiger Heiliger. Mikhailov kam die Art, wie er die Kerne mit den Fingern aus den Früchten bohrte und dann wegwarf, wie eine rituelle Handlung vor. Der Kreis mit dem „H“ an der Haltestelle wird zu seinem Heiligenschein.

Mikhailovs ausgeprägtes Sensorium für das Vibrieren unter der Oberfläche hat mit seinem eigenen Schicksal zu tun. Er selbst bekam früh zu spüren, wie es ist, herauskatapultiert zu werden – und hat daraus seine Profession entwickelt. Der junge Ingenieur mit künstlerischer Ambition darf Anfang der Sechziger in seiner Fabrik einen Kurzfilm drehen und Betriebsfeiern fotografieren. Als er im firmeneigenen Labor auch noch seine Privatfotos mit Aktbildern entwickelt, steht der KGB vor der Tür. Mikhailov wird entlassen: Fotografie gilt damals als subversiv, die Aktfotografie erst recht. Auch wenn er später wieder eine Anstellung fand, hat er von beidem doch nicht mehr gelassen: dem Fotografieren und den Akten. Sie prägen sein Werk, als wäre der nackte Körper der Beweis für Autonomie. Dieser kämpferische Geist steckt auch in seiner Serie „Krankengeschichte“, mit der Mikhailov der internationale Durchbruch gelingt. Die porträtierten Obdachlosen zeigen selbstbewusst ihre mal aufgedunsenen, mal abgemagerten Körper, Brüste, Bäuche, Narben – und es ist der Betrachter, den das beschämt. Mikhailov gab seinen Protagonisten Geld; das wurde ihm später als böses Geschäft angekreidet. Dabei kann von gekauften Posen nicht die Rede sein, die Porträtierten zeigen einen trotzigen Stolz. „Jemand interessierte sich zum ersten Mal für sie,“ verteidigt sich Mikhailov.

Und doch ist Boris Mikhailov mehr als ein Dokumentarist, er ist Konzeptkünstler. Auch dies von Anfang an: Mit seinen „Butterbrot“-Bildern wird er in den Sechzigern in der Sowjetunion schlagartig bekannt. In bester surrealistischer Manier legt er zwei Dias übereinander, eine höhere Wahrheit bildet sich in der Doppelschichtung ab: eine Wäscheleine, die sich quer über Schienenstränge spannt, ein Pfauenrad am nackten Po einer Frau, eine aufgeplatzte Oberfläche über einem baufälligen Haus. Zu seiner eigenen Überraschung wird er als Künstler angesehen und folgt diesem Weg. Es entstehen die schönsten Bilder etwa der Badenden an einem Salzsee, die es mit Henri Cartier-Bresson aufnehmen können; die Sozialstudien, die Richard Avedon in nichts nachstehen; die burlesken Selbstinszenierungen, mit denen er die Geschichte der Besetzung seines Heimatlandes durch die Deutschen aufspießt. Bei Mikhailov weiß der Betrachter nie ganz genau, ob er lachen darf. Oder weinen muss.

Die Ausstellung in der Berlinischen Galerie wird am Donnerstag um 19 Uhr eröffnet. Alte Jakobstr. 124 - 128, bis 28. 5.; Mi-Mo 10-18 Uhr. Katalog (Distanz) 24,80 €.

Nicola Kuhn

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