Die Rolling Stones in der Waldbühne: Die Glücksspieler
Fulminant, alterslos und groß: Die Rolling Stones treten in der Berliner Waldbühne auf - und machen ein Angebot, das das Publikum nicht ablehnen kann.
Wer diese Engländer am Dienstagabend in der Waldbühne erlebt hat, weiß jetzt, wie sich Fußball in Brasilien anfühlt. Noch um halb acht brennt die Sonne siedend heiß im Talkessel der Pichelsberge. Zuschauer schleppen sich die steilen Stufen hinauf zu den Getränkeständen, halten keuchend inne und schnappen nach Luft, während nachher selbst Keith Richards einen Spurt über die Bühne hinlegt und grinsend seine Fitness vorführt – und Mick Jagger ohne große Pause tänzelndes Vorpressing praktiziert, unwiderstehliche Offensive. Er hat auch noch den Atem, Witzchen zu machen über die Scorpions und ein Finale Deutschland–England (das die Deutschen gewinnen, wegen der Elfmeter). Und überrascht mit einem lustigen Spruch über den neuen Berliner Flughafen, dem er den Song „Waiting On A Friend“ widmet, eine der wenigen Balladen bei diesem Konzertereignis, das wie ein Gewitter über die 22 000 Fans kommt, Abkühlung und heißer Sturm zugleich.
Die Rolling Stones, seit über 50 Jahren unterwegs, machen dem Publikum ein Angebot, das man nicht ablehnen kann. Eine Art Pakt mit dem Teufel, der schaut später auch noch persönlich vorbei. Dieses Angebot – verziert mit dem legendären Logo der herausgestreckten Zunge – verspricht: Ihr könnt diesen ganzen Quatsch mit Alter und Jahreszahlen, Risiken und Nebenwirkungen vergessen. Es geht weiter. Das Leben ist ein geiles Rennen. „Start Me Up“.
Der Auftakt: Ein Volltreffer, ohne Warnung
Mit einem lakonischen Riff öffnet Keith Richards, der einen sehr guten Abend erwischen wird, wie alle anderen auch, die Schleusen. Ein Auftakt ohne Ansatz und Warnung. Volltreffer. Und schon kommt die Hymne „It’s Only Rock ’n’ Roll (But I Like it)“ und ein souveränes „Tumbling Dice“ vom „Exile On Main Street“-Album aus dem Jahr 1972, von dem Keith Richards in seiner Autobiografie „Life“ sagt, es sei vielleicht das Beste, was sie je aufgenommen haben.
Mick Taylor, der Gitarrist, gehörte damals noch zur Band, und in Berlin steht er auch wieder, wie vorletztes Jahr beim Jubiläumskonzert, bei einigen Nummern mittendrin; ein Typ wie die Alt-Hippies von Neil Youngs Crazy Horse, schwer auf den Beinen, aber brillant, antreibend, massiv auf seinem Instrument. Mick Taylor, Keith Richards, Ron Wood, ein elektrisches Trio Infernale.
Ohne retrospektiv zu wirken, bewegen sich die Rolling Stones bei dieser „14 On Fire“-Tour im musikalischen Rahmen der späten sechziger, frühen siebziger Jahre, der damals unglaublich weit gezogen war. Viel Blues und Soul, hitziger Sex. „Brown Sugar“ mit dem pulsierenden Saxofon klingt scharf, etwas hektisch wirkt „Honky Tonk Women“ mit entsprechendem Piano. Fantastisch ist der Auftritt der Sängerin Lisa Fischer bei „Gimme Shelter“, in das sich die Band auf leisen Sohlen reinschleicht und das zu einem Höhepunkt wird, wie „Midnight Rambler“. Wenn die Songs ausbrechen aus ihrer übersichtlichen Struktur, Jagger sich mantrahaft in ein paar Wortfetzen verbeißt („Miss You“), Richards offenbar immer noch staunen kann, was man mit einer minimalen Handbewegung so einer Gitarre entlocken kann, dann ist es gut. Dann ist es sehr gut. Dann wird es nicht mehr besser: Welche Band hat einen solchen harten und klaren Sound zu bieten, dass ein Waldbühnenkonzert nicht zu einem Ministadionrock wird, sondern fast schon Club-Atmosphäre bekommt!
Das ist dann auch ein Beach-Club, bei diesen Temperaturen. Die Anmach-Nummern sind in der Überzahl, und natürlich geht es irgendwann auf die Nerven, wenn der wirklich unglaublich durchtrainierte Eintänzer immer wieder das Publikum zum kollektiven „Yeah, oh Yeah“ animiert. „Are you ready?“ Nicht nötig. Die Waldbühne hat sowieso mehr oder weniger durchgehend mitgesungen, stehend.
Mick Jagger im roten Cape, Feuerspuk, Huu-huu!
„Jumpin’ Jack Flash“ bringt, wenn es denn eine Konzertdramaturgie gibt, einen Wendepunkt. Sie drehen die Lautstärke auf, als gelte es, die Gültigkeit der alten Kampflieder zu beweisen. Bei „Sympathy For The Devil“ legen sie noch eine Schaufel drauf, mit Feuerspuk, Mick Jagger im roten Cape. Huu-huu. huu-huu. Jetzt sieht der Teufel alt aus, dabei ist er unsterblich und wird überall gebraucht, in diesem Aufzug zum Beispiel in Las Vegas. Nicht, dass die Show kippt, es rührt sich nur der Verdacht, dass die Zeit am Ende doch nicht komplett negiert werden kann und manches sich ausgehöhlt hat.
Bei den Zugaben verstärkt sich der Eindruck. Erst "You Can't Always Get What You Want" mit hochtönendem Chor, schließlich unvermeidlich "Satisfaction" ("I Can't Get No ..."). Glücklich waren die Waldbühnenbesucher längst, haben bekommen, was sie wollten, und nun die Moral, die Frustration. Das passt nicht mehr. Das ist Attitüde, keine Haltung. Dafür geht es allen zu gut. Am Ende sind es bloß berühmte alte Nummern, die jeder im Rund, über das sich die Dunkelheit senkt, mitbuchstabieren kann und die dann kommen müssen in einem Konzert, für das die Fans dreistellige Anna-Netrebko-Preise bezahlt haben.
Noch um halb elf zieht sich ein feiner Lichtstreifen durch den Himmel, es ist Sommer und Berlin eine nördliche Stadt. Die Scheinwerfer heben Bühne und Laufsteg an. Es ist immer noch sehr warm. Man macht sich klar: Die Rolling Stones sind da! Sie hämmern zwei Stunden durch, die etwas Erschöpfendes haben, im guten Sinn. Man hat gespürt, dass die Musiker ihr Reservoire auskosten. Sie tun es an diesem Abend mit Lust und Laune. Das muss man nach all den Jahren und Jahrzehnten können und wollen.
Das darf trotz Konditionswunder nie unterschätzt werden: Was es letztlich bedeutet, mit 70 plus auf die Bühne zu gehen – und es wird vom Künstler stets nichts weniger als ein Naturereignis erwartet.
Als die Rolling Stones alt waren, vor ein paar Jahren – Martin Scorsese drehte mit ihnen den Konzertfilm „Shine A Light“–, da wurden sie mit Echsen und Dino verglichen, dem Naturkundemuseum entsprungen. Heute sieht man sie wieder anders. Das Altersding ist durch, erledigt. Sie lassen bei der „14 On Fire“-Reise locker Filmbilder aus den Sixties über die Leinwand laufen. Kreischende Teenager, knüppelnde Polizisten, Hysterie für Hitparaden-Stars, das ist nicht nur lange her, das ist als Ausgangslage unserer Pop- und Medienwelt zum Dokument geworden. Jeder kennt diese Szenen, aber wie soll man sie mit den dünnen Männern auf der Bühne in Verbindung bringen, die anno 1965 beim Radau dabei waren und nur kurz aufspielten, als die Waldbühne demoliert wurde?
Die Rolling Stones haben mit ihrer Musikalität die eigene Musealität überwunden. Sie zehren von den Wurzeln des Blues, für den man sehr alt werden muss. Es sei an Chuck Berry erinnert, Jahrgang 1926, der in seiner Heimat St. Louis immer noch auftritt. Der Rock ’n’ Roll gehört zu den grandiosen Missverständnissen der Menschheit. Angeblich hat er etwas mit Jugend zu tun. In Wahrheit handelt es sich um ein lebenslanges Glücksspiel.
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