Kultur: Die gefühlte Einwanderung
Als Gastarbeiter hat man sie geholt und viele blieben. Dann brach die Konjunktur ein, jetzt heißen sie Migranten. Ihre Kinder sind oft arbeitslos, die Enkel Deutsche
Jetzt, wo es keine Arbeit mehr gibt, ähneln sie einer Fahrgemeinschaft, der das Benzin ausgegangen ist. Jahrelang haben sie nebeneinander im rasenden Auto gesessen, die Deutschen und ihre Gastarbeiter, schweigend, während draußen blühendes Land vorbeiflog. Doch das wurde karger und das Auto langsamer, nun steht es ganz, und sie müssen sich überlegen, was sie miteinander anfangen wollen. Der Deutsche hat als Erster gesprochen und er hat gesagt: Steig’ aus.
Die Deutschen seien so nett gewesen, als er damals kam, sagt Rezul Cetin.
Damals war das Jahr 1973. Arbeitslosigkeit: 1,2 Prozent. Wirtschaftswachstum: über vier Prozent. 2,6 Millionen Gastarbeiter gab es da schon in Deutschland und der Plan, dass die nur befristet bleiben würden, war längst aufgegeben, der Familiennachzug gesetzlich geregelt. Die Firmen und Betriebe wollten nicht immer wieder neue Arbeiter anlernen. Und auch die 1000 D-Mark (500 Euro) Anwerbegebühr nicht immer wieder neu zahlen. Ende 1973 kam der Anwerbestopp.
Rezul Cetin, 1949 geboren in der türkischen Stadt Samsun an der Schwarzmeerküste, war einer der letzten Gastarbeiter. Als man ihm von Deutschland erzählte, hatte er eine Frau und vier Kinder, es war eng in dem Haus in Samsun. So entwarf er denselben Plan, wie ihn andere auch hatten: Zwei, drei Jahre Deutschland, viel verdienen und dann zurück.
33 Jahre später in Berlin-Kreuzberg. Der Name Cetin steht am Klingelbrett in einer kleinen ruhigen Seitenstraße, an deren Ende früher die Mauer war. Rezul Cetin, 57 Jahre alt, schaut jeden Tag bei den vier Söhnen, den zwei Töchtern, den Enkeln und Cousins vorbei. Im Wohnzimmer seines ältesten Sohns Musa sitzen drei Generationen der Cetins. Rezul, der Vater, Musa, der Sohn, und Selcuk, der Enkel. Seit drei Generationen sind sie Türken in Deutschland, und das Land, so scheint es, kann immer weniger mit ihnen anfangen.
Mit Hemd, Anzug und Weste ist Rezul Cetin akkurat gekleidet. Seine Augen blitzen hell, doch sind sie von Falten umgeben, der 57-Jährige sieht aus wie ein alter Mann. Hier im Wohnzimmer seines Erstgeborenen ist er der Chef. Eine winzige Bewegung seiner Hand, die über die Armlehne hinaushängt, und es wird Tee nachgeschenkt und Zucker hineingelöffelt. Rezul Cetin hat geglaubt: Wenn ich immer arbeite, mache ich alles richtig. Und lange galt das auch. Deutschland hat die Gastarbeiter ausnehmen wollen. Die jungen, gesunden – man hat sie untersucht, bevor sie kamen – Männer haben in die Renten- und Krankenkassen eingezahlt und es war ausgemacht, dass sie von dem Geld nichts zurückbekommen.
Aus der Stellungnahme eines Ministerialbeamten von 1967: „Die Beiträge der Gastarbeiter zu unserer gesetzlichen Rentenversicherung betragen gegenwärtig 1,2 Milliarden D-Mark, die Aufwendungen der Versicherungsträger für die Gastarbeiter jedoch nur 127 Millionen D-Mark.“ Ein Zehntel. Das Verhältnis hat sich zwar verschoben, aber gekippt ist es nicht. In seinem Jahresbericht 2004 kommt der Sachverständigenrat für Zuwanderung und Integration zu dem Ergebnis, dass die deutsche Volkswirtschaft immer noch pro zugewanderter Person und Jahr einen Gewinn von 900 Euro macht. Die Daten für die Berechnung sind zwar von 1997, der Sachverständigenrat geht aber davon aus, dass das Ergebnis heute nicht viel anders aussieht. Denn die größte Belastung für die Volkswirtschaft sind die Renten und die Gastarbeiter beziehen meist kleine Renten, und das erst seit wenigen Jahren.
Die Cetins sitzen auf tiefen Sofas, die beige und blau gemustert über Eck stehen und genau passen zur Schrankwand mit Vitrinen, zu den Gardinen, der Bordüre in der Tapete und dem Teppich. Auf dem Glastisch mit gerafftem Häkeldeckchen stehen Teegläser, die Frauen servieren selbst gebackenen Kuchen.
„Es gab einen Sprachkurs, als ich nach Deutschland kam, aber überall waren schon Türken, die gut deutsch sprachen und übersetzten“, sagt Rezul Cetin. Seine Stationen: Aschaffenburg, Textil. Werdohl, Krupp, Stahl. Berlin, wieder Textil. Deutschland war Arbeitgeber, die Türken, Italiener und Jugoslawen wurden auf Arbeitsplätze verteilt, die Deutschen waren Vorgesetzte, Kollegen. Es ging bergauf, die Stimmung war gut. „Als ich in Werdohl anfing, gab es da nur einen türkischen Gemüsehändler“, sagt Cetin. Heute hat die kleine Stadt im Sauerland mit 21 Prozent den höchsten Ausländeranteil in Nordrhein-Westfalen. Nicht nur das hat sich geändert.
Irgendwo auf dem Weg fing der Motor an zu stottern, ist die Verbindung zwischen den Reisenden abgebrochen. Konjunktur und Gastarbeiter, das hing zusammen, positiv. Den Aufschwung gibt es nicht mehr, und Gastarbeiter heißen nun Migranten, sie müssen Integrationsleistungen bringen. Wenn die Cetins heute in türkischen oder Berliner Zeitungen davon lesen, dass sie deutsche Werte lernen oder Einbürgerungstests bestehen sollen, sehen sie darin die Bemühungen der Behörden, Ausländer fern zu halten, und doch fühlen sie sich persönlich nicht angesprochen. Sie sind rechtschaffene Leute, was kann man von ihnen wollen? Im Gegenteil: Was für deutsche Werte werden ihnen in Kreuzberg denn vorgelebt? Musa Cetin sagt: „Wenn ich nichts zu tun habe, gehe ich in die Moschee, wenn die Deutschen nichts zu tun haben, gehen sie in die Kneipe.“ Er findet seine Wahl richtiger. Also treffen sich die Cetins weiter in den Hinterhöfen, wo ihre Moscheen sind, trinken Tee, unterhalten sich auf Türkisch.
Deutschland ist nur die Kulisse, vor der sie ihr kleines Leben leben, Gespräche über Werte und kulturelle Identität kommen kaum vor. Die Fragen, die wichtig sind, heißen: Was macht die Arbeit, was gibt es im Fernsehen, was zu essen, wie geht es der Familie, oder jetzt, bei der Fußball-WM: Wie spielt das deutsche Team, das in diesem Turnier auch ihres ist, die Elf, der sie die Daumen drücken. Doch der Vater spricht die Sprache dieses Landes kaum, die Mutter noch weniger. Sie kann weder lesen noch schreiben, es war in ihrem Heimatdorf nicht üblich, dass Mädchen zur Schule gehen. Für Musa Cetin kein Probem. „Macht nichts“, sagt er, „die beiden haben ja uns“. Aber die Sprache hat, seit es kaum noch Arbeit gibt und man sich unterhalten muss, eine neue Bedeutung. Nicht Deutsch sprechen, ist Integrationsverweigerung. Das will man bestrafen. Ausweisen!, rufen einige. Musa Cetin rutscht auf der Fußbank, die er zum Tisch gezogen hat, energisch vor. Er ist ein schwerer Mann mit dünner werdendem Haar. Er sagt: „Mein Vater hat hier jahrelang gearbeitet und Abgaben gezahlt, und jetzt will man ihn wegschicken, weil er kein Deutsch kann?“
1980 zog Rezul mit seiner Frau und Musa, dem ältesten Sohn, nach Berlin, damals lebten im Westteil bereits 106 000 Türken, 11,2 Prozent der zwei Millionen Berliner waren Ausländer. In den sieben Jahren seit Rezuls Ankunft in Deutschland hatte sich die Zahl der Ausländer in der Bundesrepublik insgesamt fast verdoppelt, auf 4,4 Millionen, auf 7,2 Prozent der Gesamtbevölkerung. Das Wirtschaftswachstum lag nach einem Einbruch wegen der Ölkrise bei etwa drei Prozent. In Emden lief der letzte in Deutschland gefertigte VW-Käfer vom Band, die Arbeitslosigkeit betrug im Bundesdurchschnitt 3,8 Prozent, in Berlin etwas mehr: 4,3 Prozent. Immer noch rosige Zeiten, aber unter den Ausländern gab es jetzt Arbeitslose: 5,7 Prozent.
Die Argumente für Berlin: Die Cetins wussten, dass Bekannte aus ihrer Heimatstadt Samsun hier wohnten. Und es gab die Berlin-Zulage. Die Eltern nahmen nur einen Sohn mit. Die anderen Kinder ließ das junge Paar in der Türkei. Eine Wohnung für alle konnte man sich in Berlin nicht leisten. Und wozu auch? Man wollte ja zurück in die Heimat. Spätestens nach zehn Jahren, sagten sie nun.
1979 hatte Deutschland seinen ersten Ausländerbeauftragten, den SPD-Politiker Heinz Kühn, vormals nordrhein-westfälischer Ministerpräsident. Kühn forderte bereits damals, die faktische Einwanderungssituation anzuerkennen und durch eine konsequente Integrationspolitik zu begleiten. Zudem forderte er, die so genannte zweite Generation im Bereich Schule und Ausbildung zu fördern.
Musa war beim Umzug nach Berlin 15 Jahre alt und seit zwei Jahren in Deutschland. 1978, in Werdohl noch, kam er aus der Türkei in die siebte Klasse, wo er der einzige Ausländer war und niemand seine Sprache sprach. „Es war schrecklich“, sagt er. Andererseits: Die Fußballplätze, die Sportvereine, was es hier alles gab! Der Umzug nach Berlin brachte ihn um seinen Schulabschluss, aber in der Mauerstadt fand er auch ohne Abschlusszeugnis Arbeit. Am Fließband. Erst bei Siemens, dann in einer Schokoladenfabrik. Mit Anfang 20 heiratete er eine Cousine, die ein paar Häuser weiter wohnte, sie haben inzwischen drei große Kinder.
Musa Cetin sagt, er lebe gerne in Deutschland, dabei hat er den Staat durchaus schon als feindlich erlebt. Wahlkämpfe auf dem Rücken von Ausländern, immer auch der Ruf nach Ausweisung. Musa Cetin lacht, er will das nicht ernst nehmen. „Das kennen wir doch alles“, sagt er, „das geht auch wieder vorbei.“
Seine Kinder hat Musa Cetin in Kindergärten geschickt, damit sie Deutsch lernen. Ende der 80er Jahre war absehbar, dass die Familie in Berlin bleiben würde. Man hatte sich eingerichtet, Freunde gefunden. Er schimpft auf Schulen, in denen zu viele Araber sind, weil die so viel Lärm machen. Er sagt, es fehle an Disziplin. „Die Disziplin, die man in der Schule lernt, die nimmt man mit ins Leben“, sagt er. Auch Rezul, der Alte, klagt. Früher hätten die Kinder gehorcht, lässt er übersetzen. „Heute wollen sie diskutieren.“ In der Türkei seien die Lehrer viel strenger als in Deutschland, davon könnten die sich hier mal etwas abgucken, sagt er und lächelt vergnügt, als wisse er, wie unerhört dieser Vorschlag sich ausnimmt.
Was die Cetins außerdem registrieren, sind die wachsenden Vorbehalte. Sie haben oft Angst, dass ein Türke etwas Schlimmes macht und dann über „die Türken“ geredet wird. Nach dem Mord an einem Polizisten Ende März habe er gebetet, dass die Täter keine Türken sind, sagt Musa Cetin. Es waren welche. Auch der so genannte Ehrenmord an Hatun Sürücü hat die Familie geängstigt.
Während die Alten geredet haben, hat Selcuk, der 21-jährige Sohn und Enkel, geschwiegen. Als er 1985 zur Welt kam, betrug die Arbeitslosigkeit in Deutschland und in Berlin 9,3 Prozent, fast zehn, und die Parole hieß: Das Boot ist voll. Zumal von den mittlerweile 4,8 Millionen Ausländern im Land 13 Prozent keine Arbeit hatten, mehr als doppelt so viele wie fünf Jahre zuvor. Auch für Rezul und Musa Cetin wurde es schwieriger. Die Berliner Textilfabrik Adolph, für die Rezul einen Teil der Produktion überwachte, musste 1988 schließen. Ein Jahr später kam die Wende und mit ihr ganz neue Probleme für das Land. Die Globalisierung wurde im Wiedervereinigungstaumel übersehen oder falsch eingeschätzt. Die Wende brachte für die Cetins erst die Konkurrenz der Ostdeutschen, wenn es darum ging, einen Job zu finden, dann kamen die Osteuropäer.
1989 versuchte die Familie ihr Glück mit einem Imbiss in Treptow. Aber die Ostberliner hatten noch keinen Appetit auf Döner, nach fünf Jahren gab Musa auf.
Mit dem Regierungswechsel 1998 fiel der Widerstand gegen das Einwanderungsland Deutschland. Seit 2005 ist ein Zuwanderungsgesetz in Kraft.
Wenn es heute um die Probleme der Ausländer geht, zählt die Statistik Selcuk nicht mit. Er hat als einziger aus der Familie einen deutschen Pass. Die Entscheidung war seine eigene, aber er hat sie mit dem Vater besprochen. Der ließ ihn gewähren. Selcuk ist in Berlin geboren, er lebt hier, er mag es hier, er wird bleiben. Wozu soll er einen türkischen Pass haben? Der würde ihn im Gegenteil ja nur behindern, denn Selcuk stellt sich vor, dass er in ganz Europa nach Arbeit suchen wird. Und außerdem: „Sicher ist sicher“, sagt er, „mit einem deutschen Pass können sie mich nicht abschieben.“
Selcuk Cetin hat einen Hör- und Sprachfehler. Aber er kann von den Lippen lesen und reden. Er trennt die Worte kaum voneinander, man muss genau hinhören. Er sagt, dass er oft gefragt werde, wo er herkomme, das nervt ihn. Er ist Berliner. Er hat den Hauptschulabschluss gemacht und noch ein Jahr seiner Lehre als Metallfacharbeiter bei Ota vor sich. Er hofft, dass er dann irgendwo einen Job findet. Sein Bruder Kaya, 18 Jahre, hat den erweiterten Hauptschulabschluss gemacht und bereitet sich auf seine Lehre in Bürokommunikation vor. Der Ausbildungsplatz sei sicher, sagt er. Er ist gerade in eine eigene Wohnung gezogen, seine deutsche Freundin ist schwanger, die beiden wollen zusammenziehen.
Worauf die Cetins, die drei Generationen, die auf dem Sofa in Kreuzberg sitzen, sich schnell einigen können, ist: Dass es ohne Arbeit nicht gehen wird. Nicht für den Einzelnen. Aber erst recht nicht für die Gemeinschaft. Musa Cetin sagt: „Werte? Ist nicht mehr. Arbeit ist nicht mehr. Ohne Arbeit geht Deutschland den Bach runter.“ Es ist Sommer 2006, und Wirtschaftswachstumsprognosen im Bereich von etwa einem Prozent lösen hysterische Freudentaumel aus, die Arbeitslosigkeit in Deutschland liegt bei knapp elf Prozent, sie ist in Ostdeutschland besonders hoch und unter Ausländern. In Berlin sind 40 Prozent der 444 000 Ausländer ohne Job.
Auch Musa Cetin ist gerade arbeitslos. Seit zehn Jahren, seit das mit dem Imbiss schief gegangen ist, macht er Halbtagsjobs, immer mal hier und da, auf dem Bau, in einer Werkstatt, für ein paar Monate, dann wieder Hartz IV. „Ich mache alles“, sagt er. „Ich werde nicht auf dem Sofa sitzen, bis ich Rentner bin.“ Wenn es in anderen Ländern die Arbeit gebe, die er hier nicht findet, würde er dorthin gehen, sagt Musa Cetin. So wie auch deutsche Arbeitslose überlegen, in andere Länder umzusiedeln. Handwerker finden Jobs in Osteuropa, Ärzte gehen nach England, in Österreich oder der Schweiz arbeiten Saisonarbeiter aus Deutschland als Kellner und Tellerwäscher. In letzter Zeit, sagt Musa, habe er öfter überlegt, in die Türkei zu gehen. Nicht wegen der Heimatgefühle. „Wenn man ankommt, ist es eine Woche schön, dann nervt es“, sagt er. Man gehört nicht dazu. In einem Geschäft, vergangenen Sommer, habe ihn eine Verkäuferin gefragt, wo er herkomme. Die Jeans, die er trägt, seine Aussprache, sogar die Bräune sind nicht mehr die der Türkei. Aber er hat den Eindruck, dass es dort mehr Arbeit gibt. Das Wirtschaftswachstum liegt bei 7,5 Prozent.
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