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Alberto Giacometti: Die Geburt des virtuellen Raums

Das Kunstmuseum Wolfsburg riskiert einen neuen Blick auf Alberto Giacometti. Zum ersten Mal seit zwölf Jahren wird diesem bedeutendsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts wieder in Deutschland eine Schau gewidmet.

Annette Giacometti, die Witwe des Künstlers, hat immer wieder gern diese Anekdote zum Besten gegeben: Sechs Stunden lang saß sie ihrem Mann im Atelier Modell, dann gingen sie gemeinsam zum Essen ins Café Flore, wo Alberto sie intensiv betrachtete. „Warum schaust du mich so an?“, fragte ihn darauf Annette. „Ich habe dich heute noch nicht angesehen“, soll der Künstler gesagt haben. Welch eine Antwort. Annette wird es trotzdem mit Fassung getragen haben, denn neben Diego, dem Bruder des Künstlers, war sie sein liebstes Motiv. Die Büsten und Porträts von Annette gehören heute zum Inventar der Kunstgeschichte der Moderne, mag ihr Erschaffer während des Entstehungsprozesses auch durch sie hindurchgeschaut haben.

Trotzdem bleibt die Frage: Was hat Giacometti (1901 bis 1966) wirklich in seinen Skulpturen gesehen: die Entfremdung, die Einsamkeit, das Nichts? So lautet bislang die Lesart, wenn nicht gerade wieder ein Auktionsrekord eines Giacometti-Werks erzielt wird wie im Februar dieses Jahres mit über 100 Millionen Dollar, bis heute die teuerste Skulptur. Dann interessiert vor allem der Käufer und wohin er sich seinen Schatz wohl stellt. Giacomettis hagere Gestalten, diese flüchtigen Silhouetten sind dann nur noch Prestigeobjekte, Megaseller auf dem Markt, die beim Betrachter keine ernsthaften existenziellen Irritationen mehr auszulösen vermögen.

Das Kunstmuseum Wolfsburg versucht es trotzdem noch einmal mit einer Ausstellung vornehmlich des Spätwerks und wagt eine Neuinterpretation. Zum ersten Mal seit zwölf Jahren wird diesem bedeutendsten Bildhauer des 20. Jahrhunderts wieder in Deutschland eine Schau gewidmet. Ein weiterer Grund: Sechs Kunsthändler stehen gerade in Stuttgart in einem spektakulären Fälscherprozess vor Gericht, nachdem 2009 in Mainz 1200 Imitate entdeckt worden waren. In Deutschland floriert das Geschäft mit den falschen Giacomettis. Da kann ein wenig Aufklärung nicht schaden – weshalb die Fondation Alberto et Annette Giacometti in Paris fast die Hälfte der Leihgaben für die 60 Skulpturen, 30 Gemälde und Zeichnungen umfassende Präsentation zur Verfügung stellt.

Zur Eröffnung ist auch die Vizepräsidentin der Stiftung angereist, Paola Caròla, die selbst Ende der Fünfziger dem Bildhauer noch Modell saß. Kess klopfte die damals knapp 30-Jährige an die Ateliertür in der Rue Hyppolite Maindron und bat den Meister, sie zu porträtieren. Der lehnte erwartungsgemäß ab, nahm die junge Frau schließlich trotzdem auf, da seine Frau Annette erkrankt war. Die zierliche 81-Jährige, in deren puppenhaften Zügen mit der gerundeten Stirn man immer noch erkennen kann, was den Bildhauer an ihr gereizt haben mag, erinnert sich bis heute genau an die Sitzungen. Sie hatte reglos zu sein wie ein Apfel in einem Stillleben von Cézanne, und auch durch sie schaute der Meister hindurch, als wäre sie als Person nicht vorhanden. Trotzdem fühlte sie, wie um sie ein Raum entstand, ein imaginärer Käfig, in dem sie sich selbst, ihre Existenz zu spüren begann. „Er macht uns leben“, beschreibt Paola Caròla das Phänomen, das auch für den Betrachter der Skulpturen gilt.

Um die Entdeckung dieses Raums geht es auch in der Wolfsburger Ausstellung, die Giacometti nach über fünfzig Jahren aus der existenzialistischen Betrachtungsweise befreien will. Sartre, mit dem Giacometti eng befreundet war, hatte eine Interpretation par excellence geliefert – als Metapher für die Geworfenheit des Menschen, als Ausdruck von Entfremdung und Lebensangst. Ebenso der Phänomenologe Merlot-Ponty, der in den Skulpturen eine Verkörperung von Wahrnehmung sah, genauer: den Zweifel an der Wirklichkeit der Wahrnehmung. Stattdessen kommt nun Markus Brüderlin, Direktor des Wolfsburger Kunstmuseums, mit einer Urknall-Theorie. Mit Giacometti, so seine These, begann die Erschaffung des virtuellen Raums, was – so hofft er ganz nebenbei – gerade ein junges Publikum ansprechen müsste.

Ganz neu ist die Fokussierung auf die das Werk umgebende Sphäre nicht, Giacometti selbst hat immer wieder darauf hingewiesen. „Der Raum existiert nicht, man muss ihn schaffen. (...) Jede Skulptur, die vom Raum ausgeht als existiere er, ist falsch, es gibt nur die Illusion des Raumes“, hält er 1949 in seinen Notizen fest. Jeder Bildhauer weiß um das Spannungsfeld zwischen Raum und Skulptur, die Bedingung des einen durch das andere. Dahinter steck keineswegs eine Entdeckung der Moderne. Doch Giacometti hat wie kein anderer den Fraß an seine Figuren herangelassen und sie gerade dadurch zu machtvollen Signaturen werden lassen. Bevor er in der Nachkriegszeit zu seinen hageren Gestalten fand, schuf er wenige Zentimeter große Miniaturen, die ihm immer wieder durch die radikale Dezimierung zwischen den Fingern zerbröselten, zu „Atelierstaub“ zerfielen, wie er es nannte: Die Leere wuchs, die Skulptur schwand.

Fand eine Figur vor seinen Augen Gnade und wurde nicht, wie so häufig, am nächsten Tag wieder zerstört, so besitzt sie eine phänomenale Kraft, eine geradezu totemhafte Magie. Die Wolfsburger Ausstellung probiert aus, wie weit diese Kraft reicht, überspannt aber dabei den Bogen, indem sie die gerade Handteller großen Figürchen in einen gleißend hell ausgeleuchteten Raum mit abgerundeten Ecken stellt. Der Lichtkünstler James Turrell, dem in Wolfsburg zuvor eine Ausstellung gewidmet war, wird hier mit seinen Ideen als Bühnenbildner missbraucht. Die Skulpturen wirken in dem Raum ohne sichtbare Grenzen wie Versuchsobjekte; wirklich anschauen kann man sie sich auf diese Entfernung kaum. Trotzdem ist die Wolfsburger Ausstellung ein Ereignis. Sie setzt die Skulpturen nicht nur auf die Streckbank, indem sie mit der Reichweite ihrer Strahlkraft und Raumwirkung experimentiert. Sie gibt ihnen glücklicherweise zum größten Teil einen hervorragenden Rahmen. In die riesige Halle wurde eine Stadt gebaut, die atemberaubende Einblicke, Durchblicke erlaubt. Inmitten einer Passage, die einen Straßenverlauf nachahmt, ist eine hoch aufragende „Stehende Frau“ wie ein Ausrufezeichen im Verkehr des Alltags platziert, der Zeit enthoben. Am Ende kreuzt ein „Schreitender Mann“ die vermeintliche Häuserflucht, in der gleichen gebeugten Haltung, in der man auf etlichen Aufnahmen auch den Künstler durch die Straßen von Paris eilen sah. Ähnlich wie bei ägyptischen Skulpturen sind auch Giacomettis Figuren Abstraktionen, auf das Wesentliche reduzierte Bewegungsabläufe und Dispositionen.

Dass wir in ihnen heute nicht mehr die Gescheiterten, Verlorenen erkennen wie einst Sartre oder sie als Ausdruck für die Paradoxa der sichtbaren Welt empfinden, hat mit unserer Zeit zu tun, die sich ihre eigenen Sichtweisen sucht. Gewiss, zu Beginn des 21. Jahrhunderts bedrängen uns eher die Ängste vor den virtuellen Räumen, den sagenhaften Dimensionen des worldwideweb, denen das Individuum gegenübersteht. Giacometti eignet sich kaum als Domestizierer dieser Unendlichkeit. Er suchte stattdessen Kernfiguren, schuf seine eigenen Archetypen. Ihre Stärke besteht darin, dass sie der Leere trotzen.

Kunstmuseum Wolfsburg, bis 6. 3..

Nicola Kuhn

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