20 Jahre Berlin-Bonn-Gesetz (II): Die Einheit vollenden
Deutschlands Zukunft liegt in Europa, sagt Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble. Im zweiten Teil unserer Tagesspiegel-Debatte äußert er sich zum Bonn-Berlin-Gesetz und seiner fehlenden rechtlichen Ergänzung.
Es ist ein klein wenig enttäuschend, wenn auf der Internetseite der Berliner Senatskanzlei unter der Überschrift „Hauptstadtklausel für das Grundgesetz“ steht, dass „die Hauptstadtklausel auch Rechtsgrundlage für den Hauptstadtfinanzierungsvertrag vom 30. November 2007“ ist und auf der Seite sich vor allem viel über die Hauptstadtfinanzierung finden lässt. Als ob es bei der Verankerung Berlins als Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland in erster Linie nur ums Geld ginge.
Es ist auch nicht entscheidend, ob nun alle Ministerien von Bonn nach Berlin umziehen. Der Auftrag Berlins als Hauptstadt ist ein anderer. Es ist sicherlich kein Zufall, dass der Grundgesetzartikel, der auf den Berlin zur Hauptstadt erklärenden Artikel 22 folgt, sich mit den Aufgaben der Bundesrepublik in der Europäischen Union beschäftigt und mit dem Satz beginnt: „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit.“
Die europäische Einigung bedeutet für uns Deutsche eine womöglich noch größere Herausforderung als die Wiedervereinigung. Nicht anders als bei unseren Nachbarn wird auch bei uns auf dem Weg in das vereinte Europa sukzessive vieles auf den Prüfstand gestellt – Rechtswesen, staatliche Einrichtungen, Wirtschafts-, Finanz- und Sozialordnung; kein Bereich bleibt davon ausgenommen.
Wenn man bedenkt, welche Energien alle Mitgliedsländer in kürzester Zeit mobilisiert haben, um die Währungsunion zu stabilisieren, dann bekommt man eine Vorstellung davon, welch großes Veränderungspotenzial in Europa vorhanden ist. Die Anforderungen, die eine gemeinsame Währung mit sich bringt, haben die Veränderungsbereitschaft in den beteiligen Ländern bereits enorm gefördert und werden dies noch weiter tun.
Europäische Einigung darf nicht als "kaltes Projekt" betrieben werden
Wir dürfen allerdings das Vorhaben der europäischen Einigung nicht als ein „kaltes Projekt“ im Sinne der Begriffsprägung von Ralf Dahrendorf betreiben – rational gut begründbar, ohne jedoch die Menschen auch emotional zu berühren. Innerlich berührt wird man nicht von abstrakten Formeln, sondern nur von Dingen, die nachvollziehbar, erlebbar sind, mit denen man persönliche Erfahrungen verbinden kann.
Um der politischen Einigung Europas endgültig zum Durchbruch zu verhelfen, bedarf es aber auch mehr als gelegentlicher Begegnungen. Dazu bedarf es wohlmöglich erst einer Reihe gemeinsam bestandener Herausforderungen, wie wir sie durch die Krisen in der Euro-Zone und in und um die Ukraine sowie durch die sich immer stärker beschleunigende Globalisierung und Digitalisierung erleben, und die uns vor Augen führen, wie sehr wir in Europa aufeinander angewiesen sind. Nach der Überwindung der deutschen und europäischen Teilung eröffnet sich heute die Chance, die Menschen in Europa in einer Art doppelten Demokratie, auf nationaler und auf europäischer Ebene zu verwurzeln.
Widerstand gegen Veränderung ist normal
Die weit überwiegende Mehrheit der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in unserem Land sieht mit Zuversicht und Optimismus in die Zukunft. Jetzt kommt es darauf an, diese Aufgeschlossenheit und Zuversicht zu nutzen, dass wir die jungen Menschen vor Aufgaben stellen, für die es sich lohnt, die Ärmel hochzukrempeln. Deutschland, so hat Wolf Jobst Siedler gesagt, werde nicht umhinkönnen, die Unbequemlichkeiten zu tragen, die mit der Wiederkehr des Ostens nach Europa verbunden sind. Auch der Umzug von Parlament und Regierung in die alte Hauptstadt gehörte für manche zu diesen Unbequemlichkeiten.
Widerstand gegen Veränderungen, Festhalten am Gewohnten ist normal. Im Ringen um Bonn oder Berlin als Regierungssitz wurde für mich sichtbar, was unsere Mühen und Probleme nach dem Fall der Mauer beschreibt und erklärt. Wir alle haben seit 1990 viel lernen müssen. Wer bedenkt, wie schwer sich die alte Bundesrepublik tat, zu akzeptieren, dass das wiedervereinigte Deutschland etwas auch für sie Neues ist, sollte nicht überrascht sein, dass in Europa die Veränderungen der letzten Jahre viel Unsicherheit verursachen.
Europa muss lernen, mit dem Tempo der Veränderungen Schritt zu halten.
Das ist wahrscheinlich Europas größte Herausforderung: Die Welt verändert sich mit atemberaubender Geschwindigkeit. Europa muss lernen, mit dem Tempo dieser Veränderungen Schritt zu halten. Kurzfristig das größte Problem ist die Arbeitslosigkeit und das geringe Wachstum in einigen europäischen Ländern. Aber das sind Probleme, die sich in mittlerer Frist sicher lösen lassen. Und bei allem Respekt vor den Herausforderungen des demografischen Wandels: Langfristig gibt es für uns Europäer nur wenig Grund für Pessimismus. Unsere höhere Lebenserwartung sollte uns alles andere als mutlos machen. Und dass mit immer weniger Arbeit immer mehr an Gütern produziert werden kann, ist angesichts der Not früherer Jahrhunderte auch nicht zum Verzweifeln. Und die Chance, ganz Europa wirtschaftlich und politisch weiter zu einen, ist – nach Jahrhunderten europäischen Kriegsgemetzels – ja in der Tat auch keine so schlechte Perspektive.
„Es geht heute nicht um Bonn oder Berlin, sondern um unser aller Zukunft"
Sich selbst zu zitieren, gilt zumeist als ein Zeichen beginnender Selbstzufriedenheit. Das gilt vermutlich auch für mich. Ich möchte jedoch 20 Jahre nach dem 7. Mai 1994, an dem das Berlin-Bonn-Gesetz in Kraft getreten ist, ganz ohne Selbstzufriedenheit wiederholen, was ich am Schluss meiner Rede vom 20. Juni 1991, mich an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages wendend, gesagt habe: „Es geht heute nicht um Bonn oder Berlin, sondern es geht um unser aller Zukunft, um unsere Zukunft in unserem vereinten Deutschland, das seine innere Einheit erst noch finden muss, und um unsere Zukunft in einem Europa, das seine Einheit verwirklichen muss, wenn es seiner Verantwortung für Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit gerecht werden will.“
Dieser Auftrag gilt weiterhin. Die deutsche und die europäische Einheit bedingen einander. Wir haben die Einheit Deutschlands gewonnen, weil Europa seine jahrzehntelange Teilung überwinden wollte. Deshalb war die Entscheidung für Berlin als Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland – was wir in Artikel 22 unseres Grundgesetzes noch einmal bekräftigt haben – auch eine Entscheidung für die Einheit Europas.
Es war die Entscheidung für eine Stadt, die seither eine überaus dynamische Entwicklung erlebt. Nicht nur ihre Bevölkerung wächst konstant. Auch ihre Wirtschaft legt in den letzten Jahren stärker als der bundesweite Durchschnitt zu. Berlin ist nicht nur Regierungssitz, sondern auch „Gründungshauptstadt“. Die Stadt gilt als einer der spannendsten Standorte für die junge digitale Wirtschaft neben Silicon Valley. Mit dieser Anziehungskraft leistet Berlin einen großen Beitrag zur globalen Attraktivität Deutschlands. Die Dynamik dieser Stadt tut unserem Land und seinem Ansehen in der Welt sehr gut. Und wenn dann erst noch der neue Flughafen eröffnet sein wird!
Im ersten Teil unserer Debatte äußerte sich Rupert Scholz, sein Beitrag erschien am 26. April im Tagesspiegel. Mehr zu Wolfgang Schäuble unter hier.