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Klassik: Die Eingeweide der Kakteen

Ich bin niemand, die Musik ist alles: Dem Komponisten und Universalkünstler John Cage zum 100. Geburtstag.

So lasst uns denn dem Meister in unseren John-Cage-Centennial-T-Shirts mit dem Spruch zuprosten, der auf unseren John-Cage-Centennial-Kaffeebechern steht: „Music is everywhere, you just have to have the ears to hear it.“ Wie sollte Cage diesen Gruß zu seinem 100. Geburtstag überhören können, wo für ihn Klang und Stille so paradox verschränkt waren wie Etwas und Nichts oder Leben und Tod. Cage verwandelte Zen-Koans in Spielanweisungen, und Musik war dabei für ihn ganz die Sache selbst - und zugleich Metapher für etwas anderes.

Doch halt. Nicht nur, dass die Edition Peters, die Cages Partituren verlegt, ihren heiligen Avantgardisten mit solchen Merchandising-Produkten auf ein Podest stellt, von dem er selbst jede Form künstlerischer Autorität abgeräumt wissen wollte. In den Motiven der T-Shirts zeigt sich auch jener Querstand in der Rezeption eines Mannes, dessen Entwicklung ihre Logik hatte - aber auch einen klaren Bruch.

Denn die Bewunderung gilt dem unverwüstlich frischen Theoretiker und Konzeptkünstler, der mit dem weltberühmten „4’:33““ jenes dreisätzige Tacet schuf, das jeder Idiot aufführen zu können glaubt, obwohl es auf einer hohen theatralischen Spannung beruht. Dem Zeitmagier, der mit „ASLSP“ (As SLow aS Possible), einem ursprünglich 29-minütigen Klavierstück, Gerd Zacher zu jener Orgelversion anregte, die seit 2001, auf 639 Jahre angelegt, in der Halberstadter Burchardi-Kirche erklingt. Und dem an der Grenze zur Bildenden Kunst arbeitenden Kalligraphen, der mit seiner Cathy Berberian gewidmeten „Aria“ ein Vokalstück in Farben und Kurven notierte, deren aleatorische Reize noch immer Sänger in aller Welt herausfordern. Alles Kompositionen, deren Idee in gewisser Weise das Ergebnis überwölbt. Eine Unterscheidung, die Cage niemals zugelassen hätte, über die man angesichts seines Strebens nach der reinen Ereignishaftigkeit des Klangs aber einen Moment lang nachdenken kann.

Die Liebe indes gehört einem zweifellos historischen Abschnitt seines Werkes, das er selbst hinter sich lassen wollte. Es entstammt einer Zeit, in der er noch mit den Resten eines harmonischen Denkens kämpfte, zu dem ihn sein zeitweiliger Lehrer Arnold Schönberg für unfähig erklärte. „Sie werden an eine Wand stoßen“, prophezeite er ihm, „und nicht durch sie hindurchgehen können.“ Cage erwiderte: „Dann werde ich mein Leben lang mit dem Kopf gegen diese Wand rennen.“ Er tat es wohlweislich nicht. Bis er es aber aufgab, schrieb er ganze Bündel von Stücken, deren fragiler Charme und schroffer Lyrismus jedem halbwegs geschulten Ohr schmeicheln.

Es spricht für diese Liebe, dass der Pianist Alexei Lubimov und die Sängerin Natalia Pschenitschnikova zum Jubiläum auf „As it is“ (ECM) nach Texten von James Joyce, Gertrude Stein und E. E. Cummings Cage-Lieder eingespielt haben, die zum Teil noch aus den dreißiger Jahren stammen. Und es strapaziert die musikalischen Verwandtschaften schon bis zum Äußersten, wenn der Pianist Francesco Tristano auf „BachCage“ (DG) eine Partita des von Cage lange verehrten Johann Sebastian Bach mit Cages 1947, während der Arbeit an den „Sonatas and Interludes“ für präpariertes Klavier entstandenen Ballettmusik „The Seasons“ für den Lebensgefährten Merce Cunningham kombinierte. Später verkündete Cage fröhlich, dass Bach und Beethoven in seinen Ohren immer gleich klingen würden, während Verkehrslärm doch immer etwas Neuartiges hätte.

1950 komponierte er als letztes Stück, das sich einer Art künstlerischer Gemütsbewegung zuschreiben lässt, sein Streichquartett: vier Sätze, deren Stille noch eine Eigenschaft des Notentexts ist. Der Schnitt erfolgte 1951. Alles Subjektive, alles Expressive, alles sich einer konventionellen musikalischen Logik Fügende sollte Zufallsoperationen weichen: Unter dem Stichwort der Indeterminiertheit wurde die Ziellosigkeit sein Ziel. Mit „Imaginary Landscape Nr. IV“, jenen vier Minuten und 40 Sekunden für zwölf Radioapparate und 24 Spieler, begann die Stunde des Konzeptualisten Cage. Was 1951 nachmitternächtlich an der Columbia University uraufgeführt wurde, war, wie Virgil Thomsons radiophones Cage-Porträt von 1965 (www.archive.org) dokumentiert, eine gewaltige Lachnummer. Die Zuhörer johlten, wenn in die uhrzeitbedingten Sendepausen auf einmal ein Stück Mozart hineinfunkte: eine Publikumsbeteiligung, die durchaus provoziert werden sollte. Es war einmal. Die andachtsvolle Ehrfurcht, mit der man diesem Exponat aus dem Museum der künstlerischen Revolutionen heute begegnet, ist mindestens so problematisch wie der verbissene Ernst, mit der es präsentiert wird. Vor allem aber ist nicht ausgemacht, ob die inszenierte Überlagerung solcher Klangschichten überhaupt noch in der Lage ist, die Sensibilität für die uninszenierten zu schärfen. Die „Music of Changes“ für Soloklavier, die Cage unmittelbar nach diesem aleatorischen Gründungsakt auf der Grundlage von Münzwürfen komponierte, die den Mustern des chinesischen I Ching nachgebildet waren, hatte es wegen ihres konzertanteren Charakters da leichter.

Pierre Boulez, den mit Cage anfangs eine enge Freundschaft verband, klagte allerdings bald einen kontrollierten Zufall ein und überwarf sich mit ihm. Und Luigi Nono hielt ihm 1959 in Darmstadt vor, dass sein fernöstliches, von D. T. Suzuki angeregtes Denken alle historische Kategorie verabschiede: „Man lehnt nicht nur die Geschichte und ihre formenden Kräfte ab, sondern man geht sogar so weit, in der Geschichte die Fesseln für eine sogenannte spontane Freiheit des menschlichen Schaffens zu sehen.“

Beides sind ernst zu nehmende Einwände gegen Cages Verfahren. Aber am stärksten kritisierte er sich selbst, indem er angesichts von grafisch immer offener gestalteten Partituren durch die Auslegungsnot des Interpreten durch die Hintertür ein menschliches Element ins Spiel brachte, das er der Musik gerade hatte austreiben wollen.

Insofern war es auch lächerlich, dass Cage im Namen einer entpersonalisierten Musik den Improvisationsgeist des Free Jazz verachtete. Eine Stimme und einen Stil auszubilden, den man auch ihm sehr wohl nachsagen kann, war für ihn ein Unding. Auch wollte er nicht sehen, dass sowohl der Improvisator, der sich selbst überraschen will, wie der auf unbestimmte Prozesse setzende Komponist im gleichen Baukasten der Versatzstücke wühlen. Sowenig es nämlich den absoluten Zufall gibt, sowenig gibt es etwas absolut Neues in der Welt. Umgekehrt ist auch Wiederholung nie reine Wiederholung. Mit dem Dichter René Char wusste Cage sich einig, dass jeder „Akt, selbst wiederholt, jungfräulich“ ist.

Das Schöne ist, dass Cage, der Erfinder des in balinesischen Gamelanfarben klöppelnden, präparierten Klaviers und der Vater der elektronischen Musik, nie ein Dogmatiker war, sondern ein Ironiker, mit dem und über den man auch lachen kann. Gerne zitierte er Immanuel Kant, demzufolge es genau zwei Dinge gebe, die keine Bedeutung hätten: nämlich Musik und Gelächter. „Musik und Stoff zum Lachen sind zweierlei Arten des Spiels mit ästhetischen Ideen“, heißt es in einem herrlich verschlungenen Satz der „Kritik der Urteilskraft“. „Oder auch Verstandesvorstellungen, wodurch am Ende nichts gedacht wird, und die bloß durch ihren Wechsel, und dennoch lebhaft vergnügen können; wodurch sie ziemlich klar zu erkennen geben, dass die Belebung in beiden bloß körperlich sei, ob sie gleich von Ideen des Gemüts erregt wird, und dass das Gefühl der Gesundheit, durch eine jenem Spiele korrespondierende Bewegung der Eingeweide, das ganze, für so fein und geistvoll gepriesene, Vergnügen einer aufgeweckten Gesellschaft ausmacht.“ Man versteht das sofort, wenn man Cage dabei zusieht, wie er an der Seite von Nam June Paik mit einem Federkiel an den Stacheln elektrisch verstärkter Kakteen zupft: Es scheint sogar die Pflanzen zu erregen.

Am heutigen Mittwoch um 18 Uhr findet in der Akademie der Künste am Hanseatenweg ein Geburtstagskonzert mit Lesung aus dem Buch „Empty Mind“ statt.

Gregor Dotzauer

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