Romeo Castelluccis „Democracy in America“: Die dunkle Erde der Puritaner
Von Antwerpen an die Schaubühne nach Berlin: Romeo Castelluccis „Democracy in America“ ist eine Bildermeditation über das Verdrängte im amerikanischen Traum.
Die vier Beine eines Pferdes hängen an Seilen vom Schnürboden herab und zappeln wild in der Luft. Von Motoren angetriebene Modelle erzählen hier von einem jämmerlichen, herzergreifend sinnlosen Bewegungsschema, denn alles andere – Rumpf, Hals, Kopf – fehlt. Es sind Momente wie dieser, die in Romeo Castelluccis Bildermeditation in Erinnerung bleiben. Auch, wenn sich Elisabeth die züchtige puritanische Kleidung aufreißt und ihre nackte Brust präsentiert wie der heilige Sebastian in Erwartung der Pfeile. Oder wie hinter der eingegrauten Plastikfolie an der Vorderbühne ein flaues rotes Rechteck erscheint, als hätte sich die ganze Bühne in eine Rothko-Malerei verwandelt. Das Theater, ein Gemälde, eine Installation, ein Ritual mit archaischem Ausmaß. Zu alldem findet Castellucci in „Democracy in America“ zurück, das im April zum F.I.N.D-Festival an die Schaubühne kommt – nach zwei nicht ganz gelungenen Inszenierungen: „Hyperion, Briefe eines Terroristen“ und „Ödipus, der Tyrann“, die der Italiener dort mit dem Schaubühnenensemble realisierte.
Fabulieren über das, was der amerikanische Traum verdrängt hat
In Antwerpen, wo die Arbeit an dem betonschweren Kunsthaus DeSingel uraufgeführt wurde, hat Romeo Castellucci für den Programmzettel einen kleinen Text geschrieben: „Diese Vorstellung ist nicht politisch“ lautet der Titel. Das klingt nach typischer Kunst-Programmatik und Angst vor einem Missverständnis: Der Bilderregisseur wird nicht aus den Tiefen der Geschichte und der Kunst erklären, wie Amerikas Demokratie auf den Trump kommen konnte. Alexis de Tocqueville hatte in den 1820er Jahren die junge Demokratie bereist und war mit seinem Grundlagenwerk zum Begründer der vergleichenden Politikwissenschaften avanciert. Bis heute ist sein „Über die Demokratie“ in Amerika eine beliebte Seminarlektüre bei Politologen und Soziologen. Aber für Castellucci ist sie eher Anlass fürs Fabulieren über Splitter von dem, was der amerikanische Traum immer verdrängt hat.
Das Stück beginnt mit einer Meditation über den Zweifel an Gott. Zwei Siedler in züchtiger, hochgeschlossener Kleidung haben ihrem kargen Boden nur eine grotesk kleine Kartoffelernte abgewinnen können und zweifeln an der Gnade des Herrn. Sie heißen, göttlicher geht’s nicht, Nathaniel (Gottesgeschenk) und Elisabeth (Gott schwört). Nathaniel bearbeitet mit seiner Hacke den Ackerboden, aber währenddessen verschwindet dieser Stück für Stück. Die dunkle Erde macht der weißen Kunst Platz. Und da gesteht Elisabeth ihrem Mann, dass sie sich aus lauter Verzweiflung der Blasphemie hingibt wie einer Droge. Vielleicht ist der Teufel in sie gefahren, vielleicht, so legt der konventionell inszenierte Dialog nahe, hat sie der Fluch einer alten Indianerin erwischt.
Stumme Zeugen vom Werden einer demokratischen Nation
Noch mag man an den französischen Aristokraten denken: Ist Elisabeths Bruch mit dem Glauben der Einstieg in die Auseinandersetzung mit dem Kernthema bei Tocqueville – der Fundierung der amerikanische Demokratie in einer kollektiven Sittenlehre, die von streng religiösen Puritanern auf den neuen Kontinent gebracht wurde? Die Frage bleibt ohne Antwort, wie so viele, die Castelluccis assoziatives Bildertheater aufwirft, denn hier herrscht das Sichtbare und weist die Sprache und ihre stringenten Argumentationsketten in ihre Schranken.
Nun fährt eine leicht eingegraute Folie vor die Vorderbühne und verwandelt die diversen Gruppenszenen in Traumbilder. Wie so oft löst Castellucci die Tiefe der Bühne in einem zweidimensional erscheinenden Bild auf, macht Malerei aus dem Raumkörper. Es sind Bilder von Puritanern mit hohen schwarzen Hüten, die Elisabeth wie ein lebloses Bündel mit ihren Stöcken vor sich herrollen. Wir sehen Volkstanzszenen mit wechselnden Kostümen, die sich nun weit von amerikanischen Vorbildern entfernen. Dazu werden Jahreszahlen und Worte auf die Gaze projiziert, z. B. „1854 Kansas – Nebraska Act“. Das sind stumme Zeugen vom Werden einer demokratischen Nation, Reste einer durch die Sprache organisierten Welt. Sie enden im belanglos Privaten: „1620, Jimmy bricht sich den Arm beim Sturz von seinem Kirschbaum.“ Dann wird polternd ein Kleinwagen umgestürzt, immer wieder, mit der geballten Anstrengung des ganzen Ensembles.
Das Pathos der Maschinerie bricht aus, ein Fest für die Augen
Nach Drama, Narration und Choreografie wird die Bühne nun zum Ort für Installationen: An einem herumzappelnden, mechanischen Arm ist ein Leuchtstab befestigt und der gibt mit lustig zuckenden Bewegungen den Takt vor. Endlich schweben miteinander verbundene Röhren herab und bewegen sich zum ohrenbetäubendem Sound wie ein riesiges Mobile. Jetzt bricht das Pathos der Maschinerie aus, ein Fest für die Augen, als Albtraum für den Verstand, der das alles in Narration und Logik einordnen will. Dass all das auch mit Humor gesehen werden soll, zeigt das 18-köpfige Ensemble, wenn es in langen Armeemänteln über die Bühne paradiert und Fahnen mit je einem Buchstaben in immer neuen Konstellationen präsentiert.
Eine Theaterszene bildet den Abschluss und mit dem Anfang eine dramaturgische Klammer. Zwei Indianer hocken in der Steppe, werfen sich gegenseitig englische Wörter zu und lachen über die Aussprache. Da ist es, das Verdrängte im puritanischen Traum von der auf Sitten gegründeten Demokratie: der Genozid an der indianischen Urbevölkerung. Dass diese an ihrem Untergang selbst schuld sei, hatte Tocqueville damit erklärt, dass die Indianer versäumt hätten, einen Eigentumstitel über ihren Grund und Boden vorzulegen. Außerdem, nicht Jagd, nur Ackerbau begründe das Recht auf Eigentum. Auch dass Romeo Castellucci den Abend mit einem reinen Frauenensemble bestreitet, hat seinen Grund: Ein Stimmrecht hatten Frauen nicht, als der französische Aristokrat in den 1820er Jahren in Amerika ein Modell für Europa entdeckte.
Eberhard Spreng
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