Zum Tod von Hans Mommsen: Die Deutung des Unerklärbaren
Geschichte als gesellschaftliches Engagement: Zum Tod des großen deutschen Historikers Hans Mommsen.
Unter den deutschen Historikern war er eine unbestrittene, unverwechselbare Größe. Hans Mommsen, für den sein 85. Geburtstag am 5. November auf tragische Weise zum Todestag wurde, ist aus den Auseinandersetzungen der Historiker wie aus der öffentlichen Debatte über die deutsche Geschichte im vergangenen halben Jahrhundert nicht hinwegzudenken. Keine der großen Diskussionen, die das intellektuelle Klima der Republik beeinflusst haben, vom Historikerstreit in denn achtziger Jahren bis zur Goldhagen-Aufregung in den neunziger Jahren, fand ohne seine engagierten und manchmal enragierten Stellungsnahmen statt. Versucht man sich die Protagonisten dieser Veränderung ins Gedächtnis zu rufen, so ist er unübersehbar präsent: der kräftige Kopf, immer etwas gerötet, sichtbar ein streitbares Temperament.
Er trug einen Namen, der es zur Berühmtheit von Straßenbezeichnungen gebracht hat, und gehörte tatsächlich zur Nachkommenschaft der Namensgeber, die ihrerseits eine Historikerdynastie bildeten: Er war der Urenkel des großen Althistorikers und überzeugten Liberalen Theodor Mommsen, der 1902 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, sein Vater war Professor für Geschichte in Göttingen und sein älterer Bruder lehrte in Basel. Er selbst und sein Zwillingsbruder, der vor gut zehn Jahren verunglückte Wolfgang, standen beide – ein rarer Fall – in der ersten Reihe der deutschen Nachkriegshistoriker, beide Neuzeit-Historiker, beide aber auch berührt von den Schattenseiten, die deutsche Gelehrtenfamilien heimsuchen konnten. Der Vater verlor nach 1945 wegen NS-naher Äußerungen – und, worauf der Sohn beharrte, akademischer Intrigen – seinen Lehrstuhl.
Mit Verve gegen Revisionismus
Hing mit dieser Erfahrung seiner frühen Jahre sein kritisches Verhältnis zum Bismarck-Reich und zu der von ihm geprägten Geschichtsschreibung zusammen? Oder lag der Grund dafür darin, dass er zu der Generation gehörte, die mit ihren Forschungen und Ansichten den Wandel anstieß, der seit den siebziger Jahren die deutsche Geschichtswissenschaft wie das Bild der Deutschen von ihrer Geschichte nachdrücklich verändert hat? Hans Mommsen stand immer auf der Barrikade, wenn er Rückfälle in konservative Geschichtsdeutungen argwöhnte.
Das galt zumal in den achtziger Jahren, als er im Historikerstreit entschieden auf der Seite der Kritiker der Thesen von Ernst Nolte über die Singularität der nationalsozialistischen Judenmorde stand. Damals entzweite sich die historisch interessierte Öffentlichkeit ja auch heftig über die Frage, ob die Deutschen eine nationale Identität und ein Geschichtsbild brauchten oder ob beides nicht einem fatalen Revisionismus Vorschub leisten werde. In dieser hoch erregten Phase vor der großen Wende 1989 – noch ahnte sie niemand – war Hans Mommsen voll mit von der Partie und attackierte zum Beispiel die Pläne für ein Deutsches Historisches Museum, in dem er den Eckstein eines anachronistischen Geschichtsverständnisses sah.
Unberührt davon bleibt die zentrale Rolle, die Hans Mommsen in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinem gesellschaftlichen und mentalen Kontext gespielt hat. Ob er tatsächlich die Forschung auf diesem Feld so dominiert hat, wie manche meinen, kann dahingestellt bleiben. Fraglos hat er ihr entscheidende Impulse gegeben und das Bild, das wir von dieser Epoche haben, wesentlich mitbestimmt. Sie bildete den Kern seiner Arbeit als Wissenschaftler und öffentlicher Professor, als der er sich in hohem Maße verstand.
Die Schlüsselfrage der Deutschen bleibt ungelöst
Keiner hat so wie er darauf beharrt, dass das „Dritte Reich“ nicht allein und nicht in erster Linie durch Hitler erklärt werden könne. Er lenkte den Blick unnachsichtig auf die Strukturen des Regimes, auf den Anteil der Bürokratie und die Haltung der Bevölkerung. Er hob die „polykratischen“ Züge des NS-Systems hervor, sprach von Hitler auch einmal, dessen dämonische Überhöhung bewusst herausfordernd, als einem „schwachen Diktator“ und begriff die Entstehung der ungeheuren Zerstörungskraft des Nationalsozialismus als Ergebnis eines Prozesses der „kumulativen Radikalisierung“.
Auf seinem langen Lebensweg hat Mommsen dem „Dritten Reich“ noch den Tribut der Mitgliedschaft im Jungvolk entrichten müssen. Seine Lehr- und Bildungsjahre fielen in die Zeit, in der das wissenschaftliche und universitäre Leben in der Bundesrepublik neue Konturen gewann, sein Doktorvater Hans Rothfels, Emigrant und Rückkehrer, bildete eine Verkörperung dieser Phase. In der Auseinandersetzung um den Reichstagsbrand – auf der Seite der Gegner der These von der Schuld der Nazis – hat er schon früh, 1964, eine Probe seines öffentlichen Engagements abgelegt, und der Bochumer Ordinarius hat mit seiner Studie über das VW-Werk im „Dritten Reich“ einen Anstoß für die Debatten gegeben, die schließlich zur Entschädigung der NS-Zwangsarbeiter führten.
Aber es gehört eben auch zu diesem Leben, dass Hans Mommsen in hohem Alter einräumte, dass er die Schlüsselfrage der Nachkriegsdeutschen: Wie konnte es geschehen? auch nach fünf Jahrzehnten der Beschäftigung mit ihr am Ende doch nicht wirklich erklären konnte.
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