Theater: Die Bühne als Weltraum
Poet und Philosoph: Zum Tod des Theaterkünstlers Klaus Michael Grüber.
Das ist ein jäher, furchtbarer Schlag. Ein unheilbarer Verlust. Schon die Meldung Ende letzter Woche, dass der Regisseur Klaus Michael Grüber bei den Salzburger Festspielen seine Inszenierung einer zeitgenössischen Oper von Salvatore Sciarrino mit dem Titel „Die tödliche Blume“ wegen einer Erkrankung abbrechen musste, ließ einen fürchten. In der Nacht zum Montag ist Grüber nun kurz nach seinem 67. Geburtstag auf der kleinen Insel Belle-Ile-en-Mer vor der bretonischen Küste gestorben. Ein wundersamer, abgründiger, von allen seinen Mitarbeitern und Freunden geliebter Mensch und unvergleichlicher Künstler.
Beides ist bei Theaterregisseuren nicht selbstverständlich. Viele von ihnen sind auch Machtmenschen, eher geachtet als geliebt. Und die meisten dürfen als interpretierende und collagierende Dompteure und Arrangeure gelten. Aber Klaus Michael Grüber war tatsächlich noch ein szenischer Poet, eben: ein Künstler. Im romantischen, nachromantischen Sinn. Ein Genius.
Und ein Einzelgänger. Für die Öffentlichkeit meist unsichtbar. Fast wie Beckett und Thomas Pynchon in der Literatur oder in der Musik der späte, verrückte, fantastische Glenn Gould. Grüber gab keine Interviews, erschien auf keinen Kulturpartys, lebte seit über 20 Jahren diskret in Paris. Das Telefon nahm er nur ab nach Voranmeldung bei seiner treuen Mitarbeiterin, der Dramaturgin und gelegentlichen Regisseurin Ellen Hammer – und das erst beim zweiten Anruf, nachdem man es vorher genau soundsoviel Mal hatte klingeln lassen. Ein Ritual, das er selber so ernst wie zugleich heiter, ja ironisch nahm. Auch das gehört zum Romantiker.
Und zum protestantischen Schwaben. Dieser hagere, bärtige Mann mit der hohen Stirn und so kohledunklen, mal schwermütigen, mal schalkblitzenden Augen war ein Pfarrersohn aus dem besinnlichen Neckarelz, ein Landsmann Friedrich Hölderlins. Den hat er auch in zwei seiner außerordentlichen Inszenierungen beschworen. 1975 im Probenraum der Berliner Schaubühne ließ er Bruno Ganz als Hölderlins Empedokles, der sich als Philosoph und Eremit in den Krater des Ätna stürzt, inmitten einer Eislandschaft wie einen Polarforscher auftreten, vor einem nachgebauten Abbild des Caspar-David-Friedrich-Gemäldes, das ein Segelschiff mit dem Namen „Hoffnung“ im Eismeer zeigt. Gescheitert, zerschellt. In dieser Szenerie des italienischen Malers Antonio Recalcati war der Philosoph und Flüchtling wahrhaft an den äußersten existentiellen Pol gelangt.
Diese innere Grenzüberschreitung setzte sich nach außen, schier unglaublich vergrößert fort in der „Winterreise“. Da exilierte, expandierte Grüber für sieben Dezembernächte 1977 ins Berliner Olympiastadion, wieder mit dem Ensemble der Schaubühne: um Hölderlins „Hyperion“ – eine Flucht aus dem zerrissenen Deutschland ins imaginäre, olympische Griechenland – am Ort der vergangenen Hitler-Olympiade als Requiem für alle tödlichen, selbstmörderischen Utopien zu zeigen. Ein Fußballtor war der Ruinen-Silhouette des Anhalter Bahnhofs gewichen, dort versammelten sich an einer Würstchenbude Trinker, Träumer, Vermummte, aus der Gesellschaft Gefallene: am Bahnhof ohne Abfahrt und Wiederkehr, vor den Plakaten auch der RAF-Terroristen. Das war ja im „deutschen Herbst“, in den kältesten Tagen und Nächten. Und auf der riesigen Anzeigetafel des Stadions leuchteten im Dunkel magisch wie Zeichen aus Vergangenheit und Zukunft immer wieder Verszeilen Hölderlins heraus, die emphatische Klage über das eigene „Austernleben“: im weitesten Raum, der sich einem Theater jemals geöffnet hatte.
Den Klaus Michael Grüber geöffnet hatte, mit den Untertönen natürlich auch der Schubertschen „Winterreise“. Das hatte Pathos ohne Pathetik, war kühn, groß, verrückt, aber keine Sekunde größenwahnsinnig. Grüber war in Person nämlich höchst bescheiden, leise, bei aller eigenen Schwermut, die ihn, wie die dionysische Liebe zum Wein, schon früh gezeichnet hatte, zugleich von wunderbarem Humor. Als er 1995 den Kortner-Preis erhielt, freute ihn das, aber er bat, nicht selber auftreten zu müssen. Ich durfte ihm den Preis in Paris überbringen, und das feierten wir mit Ellen Hammer zu dritt in einem kleinen Pariser Restaurant. Zur Ehrung in Berlin sandte er Grüße.
Natürlich fragte ich ihn bei dieser Gelegenheit nach seinen sagenhaften Anfängen. Zu Beginn der 60er Jahre hatte ihn der einflussreiche Stuttgarter Theaterwissenschaftler und Kritiker Siegfried Melchinger als Student ans Mailänder Piccolo Teatro von Giorgio Strehler empfohlen. Dort galt er als Strehlers Assistent. Doch monatelang muss der zu dieser Zeit berühmteste Regisseur Europas den schwäbischen Jüngling gar nicht beachtet haben. Grüber lächelte: „Ich konnte noch kaum Italienisch, wollte nur raus in die Welt, gar nicht unbedingt ans Theater. Für mich waren die Begegnungen in den Schächten der Mailänder U-Bahnhöfe zunächst auch viel spannender.“ Begegnungen in U-Bahnschächten? „Ja, da habe ich bei den Obdachlosen geschlafen. Ich konnte mir erst mal kein Hotel leisten.“
Später bekam er am Piccolo doch seine erste Inszenierung, Brechts „Jeanne d’Arc“. Zurück in Deutschland wurde er als rätselhafter Surrealist zum Geheimtipp. Peter Stein aber holte ihn dann an die neu formierte Schaubühne am Halleschen Ufer, und in Berlin bedeutete seine im leeren weißen Raum gespielte Ergründung der „Bakchen“ des Euripides 1974 den Beginn einer Weltkarriere, auch in der Oper. In jenen „Bakchen“, den geistern des Dionysos, waren der Rausch und hellste Klarheit als Grübers Magneten und Antikräfte sofort erkennbar.
Den vom Leben oder den Göttern geschlagenen Trinkern und Träumern blieb er immer nah, und im Film hat er in den „Liebenden von Pont-Neuf“ mit der jungen Juliette Binoche den zärtlichen, verstruppten, mehr als nur rotweinseligen Clochard wunderbar selbst gespielt. Fürs Theater hat er den „Faust“ zusammen mit Bernhard Minetti in gut zwei Stunden zum Drama des Denkers als verliebter alter Mann poetisch und philosophisch verdichtet, hat an der Comédie Francaise die schönste, dunkelste Vision der „Bérenice“ von Racine ersonnen, und die große Jeanne Moreau, mit der er „Die Magd Zerline“ nach einem Romankapitel von Hermann Broch inszenierte, nannte ihn unlängst den „eindrucksvollsten Regisseur meines Lebens“.
In Berlin konnte man einmal beobachten, wie er dem Schauspieler Martin Wuttke 1998 bei der Arbeit an Goethes „Iphigenie“ den Eros und die Dämonie der Sprache an einem einzigen Wort erklärte: am Vokal und dem Zischlaut von „Asche“. Das wird es nun nie wieder geben.
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