Neues Album "Magdalene": Die Britin FKA Twigs schwingt sich zur Pop-Göttin auf
Auch Aliens leiden an gebrochenen Herzen und haben Liebeskummer: „Magdalene“, das spektakuläre Album der britischen Electro-Pop-Künstlerin FKA Twigs.
Sweatshirt und Jogginghose sind nicht gerade das Standardoutfit von Tahliah Garnett. Bei Fotoshootings oder Konzerten inszeniert sich die 31-jährige Britin, die sich FKA Twigs nennt und zu den aufregendsten Pop-Newcomern der letzten zehn Jahre gehört, als perfekt durchgestyltes Kunstwesen.
Sie trägt spektakuläre Kombinationen von Kleidung, Schmuck und Haartracht, die sie wie ein über den Banalitäten des Alltags schwebendes, unwirklich schönes Alien wirken lassen.
Wenn sie dann, wie neulich in der „Tonight Show“ von Jimmy Fallon, bei der Vorstellung der herzzermalmenden Ballade „Cellophane“ vor einem Millionenpublikum nicht nur die Qualitäten ihrer phänomenalen, mühelos mehrere Oktaven durchmessenden Stimme unter Beweis stellt, sondern auch noch eine Kostprobe ihres artistischen Könnens als Pole-Tänzerin gibt, ist der Effekt enorm.
Was sollte verhindern, dass diese Pop- Göttin der nächste Superstar wird?
Die Musik klingt, als habe hier jemand alle Hoffnung fahren lassen
Ganz so einfach ist die Sache nicht. Im Making-Of zu einem Apple-Werbespot von Spike Jonze sieht man Tahliah Barnett tatsächlich in Alltagsklamotten tanzen. Der Dreh gehörte Anfang 2018 zum selbst auferlegten Genesungsprogramm der Künstlerin. Doch eigentlich war die Choreografie viel zu anstrengend für die gelernte Balletttänzerin, der nur Monate zuvor sechs Myome aus ihrem Uterus operativ entfernt wurden.
Dem körperlichen Zusammenbruch war ein emotionaler vorausgegangen: 2017 endete ihre Beziehung zu dem Schauspieler Robert Pattinson, eine Liebe, die unter schwierigen Vorzeichen stand. Von Fans des früheren „Twilight“-Schwarms auf Social-Media- Kanälen abfällig kommentiert, litt die Liaison unter dem nicht auflösbaren Widerspruch zwischen privater und digitaler Intimität.
Am Ende blieb Tahliah Barnett mit gebrochenem Herzen zurück, einem Gefühl, dass sie in dieser allumfassenden Heftigkeit niemals erwartet hatte.
Aus diesem Schmerz ist „Magdalene“ geboren, das fünf Jahre nach ihrem Debüt „LP1“ erscheinende zweite Album von FKA Twigs. Das von dem britischen Künstler Matthew Stone gestaltete Cover zeigt den nackten, mit schlierigen Farbbändern behängten Körper der Musikerin als leere Hülle mit toten Augen, wie ein Fehldruck aus dem 3-D-Printer.
Und auch die Musik klingt erstmal so, als hätte jemand alle Hoffnung fahren lassen.
Wie ein Mantra wiederholt FKA Twigs im ersten Stück „Thousand Eyes“ die Zeilen „If I walk out the door it starts our last goodbye“, während das Elektronikgeknurpsel des chilenischen Produzenten Nicolas Jaar zum immer unheilvolleren Dröhnen anschwillt.
Trotzdem: Die neuen Stücke sind im Gestus deutlich zugänglicher.
Das ganze Album enthält Textpassagen, die sich an ihren Verflossenen zu richten scheinen: Sie sieht ihn ergrauen von den Lügen, die er erzählt („Fallen Alien“), suggeriert ihm, welche Liebe den Mann erwartet, der nicht von seinem Umfeld gehemmt wird („Holy Terrain“), kann nicht aufhören, an ihn zu denken („Mirrored Heart“) und täuscht beim Oralsex falsche Gefühle vor („Daybed“).
In Interviews verwehrt sich FKA Twigs zwar dagegen, Pattinson als Adressaten ihrer Songs zu verstehen, die vielmehr über alle bisherigen und alle künftigen Männer in ihrem Leben erzählen würden. Doch es ist schwer, sich die Intensität dieser Lieder ohne das Trauma des Verlusts einer großen Liebe vorzustellen.
Dazu passt, dass auch die Musik eine neue Tiefe gewonnen hat. Die frühen Stücke von FKA Twigs waren Demonstrationen von Virtuosität. Da war diese unglaubliche Stimme, die sich bis in irreale Höhen emporschrauben konnte, oft digital manipuliert, unterlegt mit sperrigen Beats und abstrakten Klanggebilden.
Die neuen Stücke sind im Gestus deutlich zugänglicher. Mehr als je zuvor steht Garnetts Sirenengesang im Zentrum, der mehr als einmal an Kate Bush erinnert. Begleitet wird er mal von behutsamen Klavierakkorden (sie hat sämtliche Lieder am Klavier komponiert). Dann wieder kollidiert er mit Beats wie zerbrechenden Eisschollen und mit Soundskulpturen, die von Zuarbeitern wie dem Experten für stadionkompatible Brachialelektronik Skrillex („Sad Day“), dem Taylor-Swift-Hausproduzenten Jack Antonoff („Holy Terrain“) oder dem durch die Arbeit für Ed Sheeran bekannt gewordenem Benny Blanco („Mary Magdalene“) gemeißelt wurden.
Der heterosexuelle Liebeskummerfuror von FKA Twigs klingt fast altmodisch.
Was es nicht gibt: durchgehende Rhythmen oder Refrains zum Mitsingen – weshalb aus FKA Twigs vorerst nicht die nächste Beyoncé werden wird.
Wie außergewöhnlich diese Musik ist, wird klar, wenn man sie mit einer durchaus ambitionierten Künstlerin wie CharliXCX vergleicht. Deren neues Album wird nur durch hochkarätige Gäste wie Lizzo oder Haim vor der Belanglosigkeit gerettet. Aber: Charlis Songs sind auch für motorisch Mittelbegabte tanzbar, während man sich ohne Grundkenntnisse in Vogueing, Poledancing oder Eiskunstlaufen von Twigs labyrinthischen Songarchitekturen leicht überfordert fühlt.
In Zeiten, in denen im Pop traditionelle Rollenmodelle zerbröseln und durch genderfluide, polyamouröse oder nonbinäre Identitäts- und Beziehungskonstruktionen abgelöst werden, wirkt der heterosexuelle Liebeskummerfuror von FKA Twigs fast altmodisch.
Umso mehr bei einer Person, die sich all der Bedingtheiten ihrer Existenz als Frau und person of colour bewusst ist. Ob man „Magdalene“ nun zu den großen Trennungsalben der Popgeschichte zählt oder der universelleren Lesart der Künstlerin folgt, ist im Grunde egal.
Die Schönheit und beinahe spirituelle Kraft, die FKA Twigs aus ihrem Schmerz generiert hat, lässt einen für künftige Zeiten hoffen: So lange es gebrochene Herzen gibt, wird es auch gute Popmusik geben.
Jörg Wunder
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