Kultur: Die Barfuß-Demonstranten
Von Mao zu Maso: Das Berliner Haus der Kulturen der Welt zeigt junge Fotografie und Video aus China
Es wirkt wie Utopia: Hochhäuser, Sportplätze, Parks und Parkplätze, eine Stadt des 21. Jahrhunderts. Und davor ein kleines Steinhaus mit traditionellen Sprossenfenstern, ohne Dach schon, halb zerstört. Eine Steinhalde, ein Abbruchgebiet. Auf einem anderen Foto hängen die Pin-Up-Fotos, Marilyn neben chinesischen Schönheiten, noch in Fetzen an der Wand, die schon zur Hälfte demoliert ist. Und der Graffitikünstler Zhang Dali hat überall in den Sanierungsgebieten sein eigenes Konterfei, einen Glatzkopf, an die Wand gesprüht oder in sie hineingehauen. Durch die Öffnung, die der Kopf bildet, sieht man – erneut Hochhäuser.
Der gigantische Umbruch, der sich in Chinas Städten seit einigen Jahren vollzieht, beschäftigt nicht nur deutsche Architekten, die hier ein lukratives Auftragsgebiet erhoffen. Auch die chinesischen Künstler sind fasziniert vom rasanten Umbruch um sie herum. „Generation Stadt“ heißt in China die Jugend, die in dieser Umgebung heranwächst. Der Videokünstler Cui Xiuwen zeigt Mädchen in einer Frauentoilette: In kurzem Rock und Spaghetti-Top schminken sie sich, telefonieren per Handy, lästern über ihre Freunde – eine Großstadtjugend, wie sie nicht viel anders in Tokio oder Rio, New York oder Berlin zu finden ist. Man fährt nicht mehr Fahrrad, sondern Auto oder Moped und geht zu McDonalds statt in die Suppenküche.
Kein Wunder, dass sich die neue Künstlergeneration, die in diesen Städten lebt, vor allem der Fotografie und der Videokunst zugewandt hat: Das Medium ist schnell, flexibel, ohne große Ausbildung zugänglich. In den vergangenen fünfzehn Jahren hat die Fotografie in China einen wahren Boom erlebt, erklärt Wu Hung, der in Peking geborene und in Chicago lebende Kurator der Ausstellung „Zwischen Vergangenheit und Zukunft: Fotografie und Video aus China“, die heute Abend im Berliner Haus der Kulturen der Welt eröffnet. Eine Ausstellung, die explizit dazu gedacht ist, junge chinesische Kunst jenseits der Stars wie Xu Bing, Zhang Huan oder Fang Lijun im Ausland bekannt zu machen: Konzipiert für New York und Chicago, war sie in Seattle und London zu sehen und macht nun im Rahmen eines größeren China-Festivals auch in Berlin Station – kurz bevor das Haus der Kulturen der Welt im Herbst für eine längere Umbauphase schließt.
Was hier an junger chinesischer Kunst zu sehen ist, ist: spektakulär. Bunt, laut, großformatig, sehr selbstbewusst, sehr zeitgemäß. Und das, obwohl Fotografie in China bis 1979 ausschließlich als Propagandamittel verwandt wurde. Die ersten freien Fotografen, Amateurknipser zumeist, die 1976 auf dem Tiananmen-Platz Massendemonstrationen dokumentierten und in Kompilationen veröffentlichten, stellten in Privat-Clubs aus, standen ständig unter Beobachtung. Doch schon die erste Ausstellung, die sie 1979 in Peking zeigten, hatte einen unglaublichen Erfolg: Dreitausend Besucher täglich, achttausend an Sonntagen. Dokumentarfotografie war plötzlich angesagt, schnell entwickelte sich so etwas wie eine chinesische Nouvelle Vague.
Von diesen Kämpfen der Vergangenheit ist in der gegenwärtigen Fotoszene nicht mehr viel zu spüren, ganz im Gegenteil: Es scheint, als ob die Künstler, die in den frühen Neunzigern zunächst begierig alle Einflüsse aus dem Westen aufsogen und kopierten, nun neues Interesse an chinesischen Traditionen entwickeln. Auffällig häufig arbeiten sie mit Wahrzeichen wie der Chinesischen Mauer, der Verbotenen Stadt oder dem Platz des Himmlischen Friedens. Sie interpretieren traditionelle Kunstwerke neu, ironisieren Maos Propagandakunst, beschäftigen sich mit Erinnerung und Familie. Die Brüder Gao Qiang und Gao Zhen zeigen ein riesiges Mao-Bild in extremer Untersicht, Hai Bo sucht die Überlebenden alter Klassen- und Betriebsfotos aus den Zeiten der Kulturrevolution und stellt sie noch einmal zum Gruppenbild zusammen, Weng Fen dokumentiert Diskussionen mit ihren Eltern, Hong Lei fotografiert einen exquisit mit Perlen geschmückten toten Vogel auf einer Veranda in der Verbotenen Stadt.
Explizit politisch ist diese Kunst selten, so frei ist der Einparteienstaat China noch lange nicht, gibt auch Wu Hung zu. Und doch werden Zensur und Unterdrückung regelmäßig thematisiert, etwa in Song Dongs Performance „Breathing“, bei der er so lange mit dem Gesicht nach unten auf dem Platz des Himmlischen Friedens liegt, bis sein Atem eine Eisfläche gebildet hat – Eiszeit in China. Oder Wang Qingsong, der in einer Breitbildfotografie eines der berühmtesten Kunstwerke Chinas nachstellt: Die „Nächtlichen Träume von Han Xizai“ von Gu Hongshong, eine Bilderrolle aus dem 10. Jahrhundert. In Wang Quingsongs Interpretation ist daraus der „Nächtliche Traum von Lao Li“ geworden: Lao Li ist ein bekannter chinesischer Kunstkritiker, der in den Achtzigern seinen Job bei einer Kunstzeitschrift verlor und sich daraufhin in die Künstlerboheme von Peking stürzte. „Es bleibt den Intellektuellen nichts anderes übrig, als sich im Privatkreis zu amüsieren“, interpretiert der Künstler diesen Zwangsrückzug. „Doch wenn das Fest vorbei ist, sind sie traurig.“
Dass die Künstler mit solchen Themen nicht anecken, liegt auch daran, dass die junge, experimentelle Kunst in China meist doch in ihrem geschlossenen Zirkel der Galerien und Kunsträume in den Großstädten verharrt. „Außerhalb der Kunstwelt werden diese Ausstellungen kaum wahrgenommen“, beklagt Wu Hung. Und dass die großen Magazine oder die Öffentlichkeit sich über Kunst erregen, sei auch eher selten – „außer, es geht um Tierschutz“. Problematisch wird es nur bei Performances, wie sie Künstler seit Mitte der Neunziger im „East Village“, einem heruntergekommenen Künstlerviertel in Peking, konzipieren und für die sie sogar im Gefängnis landeten. Ma Liuming posiert gern als Frau, wandert auch schon einmal nackt über die Große Chinesische Mauer, Song Dong versucht dem Wasser ein Siegel aufzudrücken, Cang Xin lässt Besucher über unzählige Masken seines Gesichts laufen und sie dabei zerstören, Zhang Huan hält nackt und mit Honig eingeschmiert eine Stunde lang in einer schmutzigen öffentlichen Toilette aus, bis er über und über mit Fliegen bedeckt ist. Genderwechsel, Selbstzerstörung oder Masochismus als Protest: Das ist weit entfernt von den smarten chinesischen Girls mit ihren Handys, die Cui Xiuwen in der Mädchentoilette beobachtet hat. Chinas politische Schmuddelseite interessiert uns eher.
Haus der Kulturen der Welt, bis 14. Mai, Di bis So 12 bis 20 Uhr. Katalog (in engl. Sprache) 45 Euro
Christina Tilmann
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