Kultur: Die Balkanisierung des Balkan
Der Historiker Holm Sundhaussen hat ein beeindruckendes Buch über den Aufstieg und Zerfall Jugoslawiens geschrieben.
Wenn deutsche Touristen ab den 1960er Jahren die dalmatinische Adriaküste besuchten, begegnete ihnen ein friedliches Ambiente: Inseln und Strände, römische Ruinen, osmanische Moscheen, orthodoxe und katholische Kirchen, Wasserfälle und Gebirgsflüsse. Sauber und billig waren die Massenhotels der Ära Tito. Kroaten, Serben, Bosnier oder Montenegriner – das schienen folkloristische Unterscheidungen. Hier lebten die südlichen, die Jugo- Slawen, ihr Staat war sozialistisch aber blockfrei.
Anfang der 1990er Jahren endete der Tourismus, der Krieg kam. Auf den Balkonen der Hotels, inzwischen Notunterkünfte, hängten Flüchtlinge ihre Wäsche auf. Ob jemand als „Kroate“, „Serbe“ oder „Bosnier“ definiert wurde, konnte über Leben und Tod entscheiden. Slobodan Milosevic hatte Krieg um die serbische Suprematie angezettelt, parallel gedieh Franjo Tudjmans kroatischer Chauvinismus – dazwischen wurden die Muslime Bosniens und schließlich Kosovos zerrieben. Nach den Kriegen war Titos Jugoslawien zerfallen, heute beanspruchen seine Fragmente jeweils ihren Sitz bei den Vereinten Nationen. „Der Balkan“ hat sich erneut balkanisiert.
Was dieser Staat war, wie er entstand und zerfiel, das erhellt Holm Sundhaussen in seinem so kenntnis- wie erkenntnisreichen Werk. Damit legt Sundhaussen, von 1988 bis 2007 Professor für Südosteuropäische Geschichte am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin, ein Opus magnum vor, den Ertrag jahrzehntelanger Forschung einer Koryphäe des Fachs.
Jugoslawien „mit seinen Verwandlungen und Uneindeutigkeiten“, merkt der Autor an, stellte eine Provokation dar – und ein Faszinosum: „Jugoslawien war ein Staat, ein soziales Gefüge, ein Mythos.“ Ausgangsort ist die Tatsache, dass der Vielvölkerstaat, wie er sich nach 1944/5 unter Tito etablierte, ein Kaleidoskop aus ethnischen und religiösen Minderheiten auf dem gesamten Territorium bot. Orthodoxe Serben, Montenegriner und Makedonier lebten hier, katholische Kroaten, Ungarn und Slowenen, kosovarische und bosnische Muslime, jüdische Serben und Kroaten, Roma, Sinti, deutschstämmige Gruppen und einige mehr. In jedem Landesteil waren Teile der „anderen“ vorhanden, keine einzige Gruppe besaß auf „ihrem“ Territorium eine reine Mehrheit. Sundhaussen zitiert einen Autor der 1920er Jahre mit den Worten: „Wir haben uns so durchmischt, dass wir uns einigen müssen … zwischen uns lässt sich nirgendwo eine Grenze ziehen, nicht einmal durch einen Bürgerkrieg können wir einzelne Gebiete ,säubern’“. Trotzdem kam es nach dem Ende des von Tito und der Kommunistischen Partei Jugoslawiens geprägten Sozialismus des „Dritten Weges“ zwischen West und Ost im Kalten Krieg, zu den Phantasmen, solche „ethnischen Säuberungen“ seien notwendig und auch machbar.
Aus den Zerwürfnisse und Allianzen während des Zweiten Weltkrieges, als antifaschistische Partisanen und Monarchisten und Kollaborateure der Besatzer einander bekämpften, leitet Sundhaussen die konkurrierenden Opfermythen ab, die den jeweiligen Interessengruppen als Basis für ihre Ideologien dienten. Mit so viel wissenschaftlicher Akribie wie erzählerischer Souveränität legt der Autor die Linien frei, die der Dynamik einer widersprüchlichen Entwicklung zugrunde liegen. Sogar die statistischen Passagen zur Erhebung und Manipulation der Opferzahlen lesen sich dabei spannend und lassen verständlich werden, was auf den ersten Blick rätselhaft wirken kann. Mit der Selbsthistorisierung der Partisanentruppen setzte eine Serie der Retuschen und offiziellen Lesarten ein, die auf Fakten wenig Rücksicht nahm, und einen Cocktail aus Fakten und Mythen schuf.
Sundhaussen leuchtet in die relevanten Räume und Zeiträume eines Prozesses, der 1948/9 zum Bruch Stalins mit Tito führte, dem die UdSSR seine selbstbewussten Sonderwege verübelte, und der eine Ökonomie produzierte, die sich zwischen Sozialismus und Kapitalismus ansiedelte, und ein bescheidenes Wirtschaftswunder hervorbrachte. Bestrebt, das enorme Einkommens- und Bildungsgefälle zwischen den Landesteilen auszugleichen, unternahm „die Partei“ in den 1950er und 1960er Jahren gewaltige Anstrengungen. Gleichwohl brachten sie ärmeren Schichten einen höheren Lebensstandard, vervielfachten die Quote der Alphabetisierung und verhalfen Frauen zu mehr Freiheit in den patriarchal geprägten, ärmeren Landesteilen Makedonien und Kosovo.
Doch gegen die atheistische Staatsdoktrin kam es zur Wiederbelebung des politisierten Katholizismus wie der politischen Orthodoxie. So erklärten etwa Kroaten zu Beginn der 1970er Jahre das Serbokroatische als Amtssprache zum serbischen „Oktroi“ und verweigerten sich der Mitarbeit am serbokroatischen Wörterbuch. Durchgängig macht Sundhaussen deutlich, aus welchen zeithistorischen Stoffen die damals aktuellen Entwicklungen ihre Energie bezogen, welche Fäden aufgenommen und aus alten neu gesponnen wurden. Klar wird auch, welche enormen Altlasten den nächsten Generationen zur Aufarbeitung überantwortet sind. Ihrer Rolle im Zweiten Weltkrieg und der ersten Nachkriegsphase hat sich Kroatiens katholische Kirche bis heute nicht gestellt.
Den einen Grund für das Zersprengen Jugoslawiens liefert ein seriöser Historiker selbstverständlich nicht. Sundhaussens Buch, erfrischend frei von Jargon und bis zu den Schlusskapiteln, die an die Gegenwart stoßen, überaus transparent aufgebaut, klärt aus vielen Perspektiven auf und lässt ein Gesamtbild entstehen. Ihm geht es darum, jenseits nationalistisch aufgeladener Narrative deren Genese und Wirkmacht zu erkunden, und den sie auslösenden Faktoren – etwa von Kalkül getriebenen Verzerrungen – auf die Spur zu kommen. Spezifisch „balkanische“ Tendenzen zur Gewaltausübung, wie sie im öffentlichen Diskurs gern unterstellt werden, erkennt der Autor freilich nicht. Die „Jugoslawen“, so sein Fazit, agierten und reagierten nicht anders als andere Subjekte der Geschichte unter dem Druck ideologischer Verzerrungen und ökonomischer Situationen. Caroline Fetscher
– Holm Sundhaussen: Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten 1943-2011: Eine ungewöhnliche Geschichte des Gewöhnlichen. Böhlau Verlag, Wien/ Köln/Weimar 2012. 567 Seiten, 59 Euro.
Caroline Fetscher
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