Berlinale: Die Ära des impressionistischen Kinos
In „Under Electric Clouds“ treffen sich Lebende und Tote, schon Verlorene, Wiedergefundene. Dabei ruft der Film: Ich bin keine putingefällige, quasihöfische, dekorative Staatskunst!
Der Amerikaner Terrence Malick und der Russe Alexej German jr. sind die beiden Quasi-Philosophen dieses Festivals. Der eine verfilmt Bewusstseinsströme: Der Fluss der Gedanken reißt nie ab, da wird auch viel Schrott mitgespült. Aber Malicks Bilder sind meist sehr schön. Prätentiös, aber schön. Bei Alexej German jr. ist alles ganz anders, aber fast genauso.
German verfilmt statt des Bewusstseinsstromes den Fluss der Geschichte. Beides ist gleich uferlos. Es gibt für Germans Vorhaben auch einen Anlass: 100 Jahre Oktoberrevolution. Kein Grund zum Feiern, das macht schon der erste Blick deutlich. Ein Niemandsland im Nebel, irgendwo ragt ein Rohbau in den Himmel aus Blei.
Natur kann nicht verwahrlosen. Die Verwahrlosung haben wir in die Welt gebracht. Doch eine Leninskulptur streckt den Arm aus in eine bessere Zukunft. Was waren das für Zeiten, da so viel Zuversicht möglich war? Mörderische Zeiten wohl. Aber mit solchen Fingerzeigen funktioniert dieser Film nicht.
Lebende und Tote, Verlorene und Wiedergefundene
In Germans surrealer Geschichtslandschaft wird nicht gedacht, in ihr begegnen sich vielmehr Lebende und Tote, schon Verlorene, Wiedergefundene. Das Eingangsbekenntnis formuliert es so: Von den Überflüssigen handele dieser Film. Geschichte ist niemals ohne sie. Sie sind einfach da, sagen Sätze wie „Elfen sind unsterblich. Ich bin so verspielt.“ Und wenn jemand erklärt, er habe gelesen, Stalin sei kein Monster, kann die Antwort lauten: „Hast du den Wasserkocher gesehen?“
Strawinsky. Schnittke. Metallica. Warum soll man die drei nicht nennen dürfen? Einfach so, ohne Bezug, ohne Erklärung. German macht es auch. Er denkt sogar an Mickey Rourkes Hund, und der kann nun wirklich nichts für die Große Sozialistische Oktoberrevolution.
Ära des impressionistischen Films
Die Berlinale könnte sich fragen, ob es wirklich eine gute Idee ist, die Filmkritiker der Welt morgens um neun Uhr den Resonanzräumen solch eigenwilliger Semantiken auszusetzen. Vorm Frühstück sind wir alle Positivisten. Und auch die Empfänglichkeit für Apokalypsen aller Art wächst erst mit dem Tag. Auf der Pressekonferenz sagt German, dass die Zeit des mehr dokumentarischen Kinos zu Ende sei und die Ära des impressionistischen Films beginne. Was ist Freiheit? Vielleicht, wenn man ganz laut rufen darf: „Ich platziere Sanitärtechnik in Raum und Zeit!“ Ein schöner Satz. Ein entlastender Satz. Aber von wem ist er?
Es ist nicht ganz leicht, sich in Germans Personal der Verlorenen zu orientieren: Da ist das Mädchen, das im Ausland lebte, und nun diese Weltendlandschaft mit Rohbauten geerbt hat. Des Weiteren treten auf: ein suizidgefährdeter Architekt, ein kirgisischer Arbeiter auf der Suche nach seinem Freund, ein Held, der sich einst beim Augustputsch in Moskau vor einen Panzer warf und nun Touristen führt.
Keine putingefällige, dekorative Staatskunst
Die Dreharbeiten zu „Under Electric Clouds“ haben fünf Jahre gedauert und standen auch schon mal kurz vor dem Abbruch. Irgendwie sieht man ihm das an. Außerdem wurde die große Leninstatue geklaut, doch die Filmemacher haben sie hartnäckig gesucht, vielleicht, weil sie ihr einziger fester Anhaltspunkt war. Sie fanden Lenin schließlich in einem Gemüsegarten wieder.
Russland bedecke die Finsternis des Sich-selbst-Nicht-Verstehen-Könnens, erklärte German nachher den Journalisten. Die Frage ist nur, ob sich das nach „Under Electric Clouds“ bessern wird. Es gibt erhellende, geistzündende Formen des Aberwitzes, zu denen zählt „Under Electric Clouds“ gewiss nicht. Es scheint eher, als würde er mit jeder neuen Einstellung rufen: Ich bin keine putingefällige, quasihöfische, dekorative Staatskunst! Das reicht nicht.
11.2, 12 Uhr und 15 Uhr (Friedrichstadtpalast), 22.30 Uhr (International), 14.2., 9.30 Uhr (Haus der Berliner Festspiele)