Zum Zustand der Dahlemer Depots: Deutsche Völkerkundemuseen sind teilgeordnetes Chaos
Die deutschen Sammlungen bleiben hinter europäischen Standards zurück. Es wird Zeit für Maßnahmen. Ein Gastbeitrag.
Einmal im Jahr hängt an Ladentüren das Schild: „Wir machen Inventur“. Dann werden die Artikel gezählt und unter Einbeziehung der Ein- und Ausgänge mit dem Anfangsbestand verglichen. Das dient der Feststellung des Fehlbestandes. Unternehmen sind per Gesetz dazu verpflichtet. Die deutschen Museumsdepots nicht.
In vielen Nachbarländern ist das anders. So führte in den Niederlanden schon Ende der 80er Jahre ein Rechnungshofbericht zu einem öffentlichen Aufschrei. (Der Kulturminister soll den Bericht diskret erbeten haben, so entsetzt war er über die Zustände in den Depots.) Das Parlament beschloss daraufhin über alle Parteigrenzen hinweg ein Programm und investierte Hunderte Millionen Gulden in neue Depots und Datenbanken. In Skandinavien wurden diese Arbeiten großteils 1980 bis 2000 erledigt, in Spanien, Schottland und England 1990 bis 2010. Das Musée du Quai Branly in Paris hatte schon bei der Eröffnung dieses ethnologischen Museums 2006 den Depotumzug, die Bestandsaufnahme und Inventur abgeschlossen, und die gesamte Sammlung wurde online gestellt. Seit 2002 ist ein Gesetz in Kraft, das die „Musées de France“ verpflichtet, alle zehn Jahre eine Inventur vorzulegen.
Vieles wurde zerstört, entsorgt und getauscht
Die meisten deutschen Völkerkundemuseen kennen ihren genauen aktuellen (Fehl-)Bestand nicht, weder das Ethnologische Museum Berlin, das seine bedeutendsten Exponate bald im Humboldt Forum präsentiert, noch das Linden-Museum Stuttgart, das Museum Fünf Kontinente München oder das Hamburger Museum am Rothenbaum, Kulturen und Künste der Welt – um nur die großen Häuser zu nennen. Die offiziellen Bestandszahlen sind Summen aus Inventarbucheinträgen. Gleichzeitig wurde vieles in der Vergangenheit von Insekten vernichtet, von Wasser zerstört, entsorgt oder getauscht. Undokumentiert Verschwundenes erhielt oft das Label „Kriegsverlust“.
Zur Depot-Schattenwelt gehören weiterhin im Ethnologischen Museum Berlin, und nicht nur hier, Kartons mit Bruchstücken von Figuren oder Keramikscherben, Schränke mit Textilresten und nummernlosen Stücken. Depots beherbergen teils solche Massen, dass leicht vergessen wird, dass es sich bei jedem Einzelstück um ein unersetzbares historisches Objekt handelt oder mindestens handeln könnte.
Wegen der Schädlinge wurden viele Objekte früher mit giftigen Chemikalien behandelt. Natürlich diente dies einem guten Zweck: Insekten müssen abgeschreckt werden. Sonst wäre vieles in der Tat längst zerstört. Leider wurden die Behandlungen damals nicht auf den Karteikarten vermerkt, was jetzt umfangreiche Untersuchungen nötig macht und Mitarbeiter wie Forscher dazu nötigt, vermummt und mit Mundschutz zu arbeiten. Nun gibt es seit Jahrzehnten schädlingsdichte Gebäude. Bauteil 4, das Depot des Ethnologischen Museums aus den 60er Jahren, gehört nicht dazu. Seine fliegenden Bewohner werden gefangen, klassifiziert und gezählt. Seit 2014 erklären die Staatlichen Museum zu Berlin dieses sogenannte „Integrated Pest Management“ auf ihrer Internetseite.
Würde man mit einem Gemälde auch so umgehen?
Der Brandschutz des Gebäudes wird jetzt endlich verbessert, ohne allerdings die gewählte Maßnahme und die Alternativen öffentlich diskutiert zu haben. Die stellvertretende Generaldirektorin der Staatlichen Museen, Christina Haak, neutralisiert die Unterlassungen vergangener Jahre mit dem Begriff „Investitionsstau“. Dem Tagesspiegel sagte sie vergangene Woche, es könne schon mal passieren, „dass ein empfindliches organisches Objekt wegen der nicht angemessenen Architekturhülle eines Altdepots Schaden nimmt“. Das vermittelt Gelassenheit. Aber Objekte sind der wesentliche Wert eines Museums; ihre Erhaltung ist sein wichtigster Zweck.
Klar, Schäden „sind immer Einzelvorkommnisse“, doch über Schäden an einem Kirchner, Klimt oder Klee würde Christina Haak wohl weniger milde urteilen. Solche Gemälde mögen wertvoller erscheinen als zum Beispiel ein Federschmuck der Karaja oder eine mit Fell bekleidete Figur der Songye. Aber die Nachfahren der Hersteller werden dies wohl anders sehen. Die Restitutionsdebatte ist dabei, unsere eurozentrische Wertdefinition zu verändern. Wieso wurden die Objekte im maroden Dahlemer Gebäude nicht wenigstens durch moderne Vitrinen geschützt? Eine Kostenfrage oder ist einfach nur keiner auf diese Idee gekommen?
Völkerkundliche Depots sind teilgeordnetes Chaos. Damit ist ein Zustand beschrieben, und keine Anklage erhoben. Denn richtig ist auch, dass sich die Museen seit Jahren abmühen: Nebenher wird fleißig fotografiert und gescannt, es werden Daten eingegeben und Objekte gereinigt. Diese Arbeit lastet jeweils auf einzelnen Schultern und dauert Jahrzehnte, da sich die Träger der Museen nicht erbarmten, helfende Trupps zu schicken.
Eine Ausnahme bildet das Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln, mit über 66 000 Objekten. Die Stadt und das Land Nordrhein-Westfalen finanzierten nicht nur ein neues Depot, sondern ermöglichten auch ein Erfassungsprojekt. So konnten der ehemalige Direktor Klaus Schneider, seine Restauratorinnen und etwa 30 Mitwirkende nach drei Jahren Vollzug melden. Die Sammlung ist umgezogen, vorbildlich gelagert, mit scanbaren Etiketten versehen, fotografiert und in der Datenbank erfasst; nur die Sammlungsakten sind noch nicht gescannt. Leider fehlt der neuen Direktorin Nanette Snoep der Ehrgeiz oder der Mut, die Datenbank jetzt für die Öffentlichkeit online zu stellen.
Angaben zu den Objekten sind oft falsch oder ungenau
Zurück nach Berlin. Christina Haak sagte dem Tagesspiegel, dass „490 000 von 500 000 Objekten des Berliner Ethnologischen Museums digital inventarisiert“ seien. Das klingt nach „Mission erfüllt“. Doch es besagt lediglich, dass aus den Inventarbüchern die meist hundert Jahre alten handgeschriebenen Einträge abgetippt wurden. Da gibt es unterschiedliche Schreibweisen, die Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte sind nicht eingearbeitet und nur ein geringer Teil der Objekte ist fotografiert. „Digital inventarisiert“ bedeutet zurzeit: veraltet, langsam, ohne Foto. Da Objekte häufig der falschen Region zugeordnet sind oder ihr Typus falsch klassifiziert ist, liefern Datenbankabfragen dann falsche Ergebnisse; ohne Foto kann das kaum auffallen.
So zeigt eine von mir aktuell beendete Analyse des zwischen 1800 und 1856 in die Königliche Kunstkammer Berlin eingegangenen Federschmucks aus Brasilien, dass mehr als 60 Prozent der Angaben zur Ethnie, zum Typus oder zum Sammler falsch oder sehr ungenau sind. Immerhin zählen diese etwa 100 Stücke zu den frühesterworbenen und wertvollsten Beständen des Museums – und sind eng mit dem Namensgeber des Humboldt-Forums verbunden.
Man muss öffentlich Maßnahmen und Budgets diskutieren
Die gute Nachricht: Das Scannen aller Erwerbsakten des Ethnologischen Museums soll etwa 2022 abgeschlossen sein. Bei der großen Anzahl von Akten wird dies eine höchst anerkennenswerte Leistung sein. Schon heute zählen die öffentlich zugänglichen Archive zu den vorbildhaft gelösten Arbeitsbereichen in der Stiftung Preußischer Kulturbesitz.
Wie oft wiederum die Dahlemer Depotsituation Tagesordnungspunkt verschiedenster Gremien war, ist nicht bekannt. Es ist höchste Zeit, öffentlich Maßnahmenkataloge mit realistischen Terminen und Budgets zu diskutieren. Die für das Thema Kolonialismus verantwortlichen Sprecher aller Bundestagsfraktionen kritisieren die fehlende Bestandsaufnahme und Inventur sowie die unvollständige Online-Präsentation der Museen, sie fordern Veränderungen. Auf Nachfrage unserer Zeitschrift „Kunst & Kontext“ sprach der SPD-Abgeordnete Helge Lindh von „nicht ausreichendem Personal“, Volker Ulrich (CSU) glaubt, „da ist noch Luft nach oben“, Kirsten Kappert-Gonther (Grüne) nennt die Behebung der Mängel als Grundlage für eine bessere Provenienzforschung ein „zentrales kulturpolitisches Anliegen“.
50 Millionen jährlich bräuchte es für europäisches Niveau
Alle plädieren für eine sachgerechte Aufbewahrung der Objekte. Die Linke-Politikerin Brigitte Freihold würde eine gesetzlich geregelte Inventurpflicht begrüßen. Und die Mehrzahl der interviewten Abgeordneten stellt die Frage, ob nicht die Rechnungshöfe der Länder und des Bundes eine ordnungsgemäße Lagerung kontrollieren sollten.
Die Erhaltung der Objekte, die Inventarisierung und Digitalisierung könnte nur mit einem fünfjährigen Programm des Bundes von jährlich 50 Millionen Euro europäisches Niveau erreichen. Die Museumsträger, meist Bundesländer und Kommunen, wären dadurch motivierbar, sich mit zusätzlich 30 Millionen Euro pro Jahr zu beteiligen. Dies wäre nicht nur ein hervorragendes Ausbildungs- und Beschäftigungsprogramm für den Nachwuchs, für Restauratoren, Wissenschaftler und Fotografen, sondern würde die Museen endlich in die Lage versetzen, die ihnen anvertrauten Schätze so aufzubewahren, wie es ihnen gebührt.
Andreas Schlothauer
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