„Centaur Mystery Comics“: Der Zentaur haut ins Auge
Menschliche Gehirne in Hundekörpern treffen auf fliegende Kreuzungen aus Pferd und Mann: Die Comics des schrägen Centaur-Verlages bieten einen bezaubernd hirnrissigen Gegenentwurf zu den um Niveau bemühten Graphic Novels unserer Tage.
In der Geschichte der Superheldencomics stellen die „Centaur Mystery Comics“ trotz ebenfalls am Rande der Vernunft operierender Auswüchse wie den Superman-Comics der 1950er und -60er Jahre und speziell deren Bizarro-World-Geschichten eine auffällige Ausnahmeerscheinung dar. Vor allem, weil sie früher da waren. Centaurs „Amazing Mystery Funnies“, welche Ende der 1930er Jahre den nordamerikanischen Comic-Markt mit wagemutigen Konzepten bereicherten, operieren inhaltlich auf einem derart schmerzfreien und grotesken Niveau, wie es heutzutage vermutlich nur noch der im Berliner Exil lebende Schwede Max Andersson hinbekäme.
Modebewusst im Schaum der Tage
Die in den Publikationen des Centaur-Verlages versammelten Serien besitzen zum Teil Ausgangsszenarien, die normalerweise von jedem Redakteur mit Ablehnung beschieden werden würden. So auch in den Geschichten um „The Fantom of the Fair“: Denn das titelgebende Fantom hat seinen Wohn- und Wirkungssitz unter dem Gelände der damaligen New Yorker Weltausstellung, was den Aktionsradius des mysteriösen Herren zunächst etwas begrenzt erscheinen lässt. Doch warum nicht die Katastrophen zum Handlungsort bringen? Genau, und so geschieht es auch. Glücklicherweise führt das Fantom Asbestseile, -leitern und ähnliches Gedöns bei sich, um den ätzenden Säuren eines alles zerstörenden Schaumes Paroli zu bieten, welcher auf dem Weltausstellungsgelände sein Unwesen treibt. Das Fantom ist hier sozusagen ein hypertropher Hausmeister in bemerkenswert minimalistischer Gewandungsgestaltung seitens Paul Gustavsons.
Noch schräger konzipiert ist da nur „The Eye Sees“; ein überdimensionierter sowie alles Übel registrierender Augapfel, der durch die Landschaft schwebt und, äh, vor allem sieht. Nun ja, ist auch im Titel so angekündigt, also warum nicht. Das Splash-Panel der von Frank Thomas im vorliegenden Sammelband gestalteten Story sieht aus, als ob ein vorweggenommener Steve Ditko mal den goldenen Schnitt ausprobieren wollte, aber entwickelt sich dann stilistisch doch in eine andere Richtung, ähnlich der cartoonlastigen Überführung des frühen Joe Shuster-Stils von „Superman“ in die gleichnamigen Trickfilm-Adaptionen der Fleischer-Studios, versehen mit einer Prise „Popeye“.
„Dr. Hans Zarkov, nehme ich an?“
Die unschlagbaren Höhepunkte des Bandes sind jedoch zweifelsfrei Malcolm Kildales „Speed Centaur“ und ein Typ namens „The Shark“ von Lew Glanzman. Hier schwingt sich der Wahnsinn zu ungeahnten Höhen auf, trotz der nicht gerade als konventionell zu bezeichnenden anderen Storys. Der Shark funktioniert wie andere maritime Helden, nur dass es der Gegner namens Von Lougg vermag, sich selbst beliebig auseinanderzunehmen und wieder zusammenzusetzen. Da bleibt kein Auge und Seestern trocken, selbst dann nicht, als der Vater von Shark, Neptun, doch, doch, dem mediumimmanenten Gesetz der Induktion folgend, den vorher zum Zwecke der Gefahreindämmung eigenhändig zerlegten Ganoven wieder zusammensetzt – leider jedoch nicht im Sinne einer funktionalen und natürlichen Anatomie.
Was diese Geschichte zu einem Vorläufer der Graham Ingels-Story „Treibsandtriebe“ aus dem deutschen EC-Sammelband „Der beste Horror aller Zeiten“ macht, nur mit einer leichteren Note versehen. Schlussbild und -pointe beider Geschichten sind jedenfalls von großer Ähnlichkeit.
Oberkracher ist allerdings „Speed Centaur“, in dem die Schraube des Schwachsinns immer noch eine Gewindedrehung fester angezogen wird, obgleich doch sämtliche im Künstlerbesitz befindlichen Schrauben bereits extrem locker zu sein scheinen. Herr Tonick, vermutlich ein entfernter Verwandter des Herrn Von Lougg aus „The Shark“ und bestimmt deutschstämmig - bis zum Kriegseintritt der Vereinigten Staaten war es 1940 nicht mehr lang hin - begeht nicht nur Transplantationsexperimente ohne jeglichen erkennbaren Nutzen, also, wenn er nicht gerade perspektivisch kleiner als Erlenmeyerkolben oder Hunde monologisierend in der Gegend herumsteht, nein, er sieht auch aus wie ein verloren gegangener Bruder von Hans (!) Zarkov. Nur dass er nicht mit fliegenden Adlermännern das Vergnügen hat, sondern mit der wohl besten Idee, die je in einem Comic visuell umgesetzt wurde: Einem fliegenden Zentaur! Yay!
Die unerwartete Wendung der Geschichte, initiiert durch reflektierenden Wasserspritzer im Sonnenlicht lässt sogar Jimmy Olsens Signaluhr alt aussehen. Das Finale ist schrecklich, so schrecklich, dass selbst der Schurke sich ungewöhnlich positioniert vom nahenden Ende abwendet. Ein wirklich sehr eigenwilliger Zeichenstil, den Herr Kildale da pflegte.
Wahre Arbeit, wahrer Lohn
Wie auch generell das Niveau der Zeichnungen dem Standard der Zeit entspricht. Grafische Sperenzchen wie man sie zur Aufwertung des Superheldenmülls heutiger Tage gerne einsetzt sind auf Grund der damals semioptimalen Produktionsbedingungen und mangelnder Erfahrung eher selten. Da sticht ein As wie Basil Wolverton besonders heraus, leider ist ausgerechnet seine Geschichte um die „Space Patrol“ recht konventionell geraten. Trotzdem sehr schön anzusehen, wie überhaupt alles von Wolverton. Zudem dürfte sein Name der einzige sein, der wenigstens einen gewissen Bekanntheitsgrad besitzt.
Es ist dem Bildschriftenverlag aus Hannover daher hoch anzurechnen, sich an diese Ausgabe gewagt zu haben. Bis auf Paul Gustavson, dessen „Der Engel“ im ersten „Marvel Comics“ vertreten und welches 1999 als Nachdruck innerhalb eines Jubiläums-Bündels durch den Panini-Verlag erhältlich war, dürften die wenigsten der hier vertretenen Künstler jemals von deutschen Leseraugen betrachtet worden sein.
Der Bildschriftenverlag zollt übrigens mit seiner retroaktiven Benennung nicht nur einem gleichnamigen Verlag aus früheren Jahren Tribut, welcher hierzulande die Illustrierten Klassiker sowie Material von DC und Marvel in teilweise abenteuerlichen Übersetzungen veröffentlichte, er bietet mit dem Begriff „Bildschriften“ obendrein eine schöne Alternative zum mit Nichtbedeutung aufgeladenen Begriff der „Graphic Novel“.
Was das Niveau der Begleittexte angeht, ist bis auf Vermeidungsstrategien gegenüber dem Bindestrich und zumindest einer fehlerhaften bibliographischen Angabe (die Speed Centaur-Geschichte „In the Laboratory of Herr Konick...“ stammt nicht aus Amazing Mystery Funnies #23, sondern aus der Vorgängernummer), nichts zu bemängeln. Ganz im Gegenteil: Mit viel Liebe zum Detail und kenntnisreich bekommt hier der Novize einen sehr umfassenden Überblick über Künstler und Produktionshintergründe sowie comichistorische Details vermittelt.
Verantwortlich dafür zeichnet Jürgen Gleue, ehemaliger Musiker in erinnerungswürdigen Psychopop-Formationen wie den 39 Clocks und Phantom Payn. Auch die Gesamtgestaltung des Hardcover-Bandes ist, angefangen vom Layout bis zur farblich abgesetzten Typographie bemerkenswert gelungen, inklusive Angabe von Letterer und Übersetzer, wie es sich gehört.
Was die Qualität der Scans angeht: Wir sprechen hier von fünfundsiebzig Jahre alten Heften, nicht von „Supreme“, kann man so machen. Gleiches gilt übrigens für die Übersetzungen, aber irgendwer wird sich immer beklagen.
Die Gesamtauflage ist nicht sehr hoch angesetzt, deshalb hier eine unbedingte Kaufempfehlung. Vielleicht veröffentlicht der Bildschriftenverlag dann noch einen Nachfolgeband innerhalb der „als „Perlen der Comicgeschichte“ bezeichneten Reihe, deren nächster Band sich der „Good Girl Art“ widmen wird. Bei noch zu entdeckenden „Amazing Mystery Funnies“-Beiträgen von Künstlern wie Comic-Pionier Will Eisner, Namor-Erfinder Bill Everett oder einer der ersten professionellen US-amerikanischen Zeichnerinnen wie June Tarpé Mills eine verlockende Aussicht.
Perlen der Comicgeschichte 1: Centaur Mystery Comics, Bildschriftenverlag Hannover, 100 Seiten, 24, 80 Euro, ISBN 978-3-944971-36-0, Übersetzer: Eckhard Friedrich, Jürgen Gleue, Lettering: Nemo F. Gleue
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