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Yves-Tanguy-Ausstellung: Der Zauber struppiger Halme

Zwischen Traum und Wirklichkeit: Yves Tanguy fand im Surrealismus zu seiner Kunstsprache, aber der große Erfolg blieb aus. Nun entdeckt die Sammlung Scharf-Gerstenberg ihn neu.

Für Heinz Joachim Kummer sah es an dem Tag im Sommer 1981 nicht gerade nach einem Erweckungserlebnis aus: das Wetter miserabel, mit der Freundin Stress. Aber dann stieß der angehende Jurist beim Besuch der „Westkunst“-Ausstellung in den Kölner Messehallen hinter einem Pfeiler auf ein Bild von Yves Tanguy, und ihn traf der Schlag. Das Gemälde hatte es dem 21-Jährigen angetan, warum kann er noch immer nicht genau erklären. Aber es entfachte eine wahre Leidenschaft für die Kunst des Surrealisten. Heute besitzt der Kölner Immobilienrechtler eine der umfangreichsten Sammlungen mit Werken des französischen Malers, die neben den Grafiken auch Bücher, Zeitschriften, Kataloge, Fotografien, Autografen und Artefakte umfasst, einen Baumpilz etwa, in den der Künstler eine Zeichnung ritzte.

Zu Tanguy als Sammlungsgegenstand passt ein solcher Gründungsmythos, denn ihm soll am Beginn seiner Künstlerkarriere Ähnliches widerfahren sein, eine lebensverändernde Begegnung mit einem Bild. Auf einer Busfahrt durch die Rue La Boétie in Paris war eher zufällig sein Blick auf ein metaphysisches Gemälde von de Chirico in einem Galerie-Schaufenster gefallen, woraufhin er seinen Stil radikal änderte. Hatte der Autodidakt zuvor, inspiriert von George Grosz, eher neusachlich gemalt, sich an Kubismus und Expressionismus ausprobiert, so wandelte er sich nun zum überzeugten Surrealisten und blieb es bis an sein Lebensende.

Seine Malerei - ein kleiner weißer Rauch

Tanguy, der Bretone, wie ihn die Künstlerfreunde nannten, weil er zwar in Paris geboren war, der Heimat seiner Familie aber immer verbunden blieb, hatte mit dem Surrealismus seine ureigene Kunstsprache gefunden: amorph und gegenständlich zugleich. Bei seinen Landschaftsbildern weiß man nie, sind es Szenarien unter Wasser oder auf dem Trockenen. Die dargestellten Körper, Hügel, Hände, struppigen Halme könnten sich ebenso gut auf dem Meeresgrund wie an Land befinden, die bizarren Formationen der bretonischen Küste scheinen darin immer wieder auf.

Anders als Dalí, den es in die Öffentlichkeit drängte, anders als Miró, der durch die heitere Stimmung seiner Bilder populär wurde, als Max Ernst und Magritte, deren Motive immer eine klare Lesbarkeit besaßen, blieb Tanguys verschwiegenem Werk in Europa der ganz große Erfolg verwehrt. Das mag auch daran liegen, dass er nach 1945 nicht wie seine Surrealisten- Freunde aus dem amerikanischen Exil nach Paris zurückkehrte, wo sie als Wegbereiter einer rehabilitierten Moderne gefeiert wurden. Auch daran, dass er schon 1955 verstarb und nur rund 240 Gemälde hinterließ, die vor allem bei amerikanischen Sammlern begehrt waren. Auf die in einem Spiel reihum allen Surrealisten gestellte Frage „Was ist deine Malerei?“ antwortet Tanguy typisch ausweichend: „Ein kleiner weißer Rauch.“

So lässt sich Tanguy auch heute noch, über ein halbes Jahrhundert später entdecken. Die Sammlung Scharf-Gerstenberg, auf Surrealismus spezialisiert, stellt ihn nun aus. Im östlichen Stüler-Bau vis-à-vis vom Schloss Charlottenburg wird nun der Kölner Sammlerschatz gehoben, ein Künstlervermächtnis zutage befördert. Eine Surrealisten-Hochburg war Berlin, diese raue, realistische Stadt, nie. Zusammen mit der parallel im Kupferstichkabinett eröffneten Willi Baumeister-Retrospektive wird die Tanguy-Schau fast zur Kampagne für eine zwischen Traum und Wirklichkeit changierende Bilderwelt. Arbeiten von Wegbegleitern ergänzen die beiden monografischen Ausstellungen.

Durch das fast 2000 Jahre alte Kalabscha-Tor, das vom einst hier residierenden Ägyptischen Museum zurückblieb, tritt der Besucher ein in diese Welt. Sie ist klein und fein, verästelt in viele Richtungen, sie lebt von den persönlichen Beziehungen. Die Surrealisten und ihr Vordenker André Breton waren ein geselliger Verein. Man traf sich zu Spielen, Publikationsprojekten, Ausstellungsvorbereitungen, Versammlungen, bei denen sich die eingeschworene Gemeinschaft gerne immer wieder fotografieren ließ. Unter dem Verdikt Bretons konnte es allerdings auch ungemütlich werden. Dalí schmiss er raus wegen Nähe zu den Faschisten, René Magritte ging freiwillig. Als es seine besten Freunde Jacques Prévert und Marcel Duhamel erwischte, mit denen Tanguy bis dahin in fröhlicher Wohngemeinschaft in Montparnasse lebte, blieb der Maler beim inner circle. Aus Spaß wurde Ernst.

Der Berliner Architekt Detlef Meyer Voggenreiter besorgte liebevoll die Ausstellungsgestaltung im Stüler-Bau. Die Bücher, Visitenkarten, Varietéprogramme, Fotografien hängen nicht nur an der Wand oder befinden sich klassisch in Vitrinen, sondern liegen unter Glasstürzen auf diversen Holztischen aus – alte, neue, runde, eckige, furnierte, grobe, gerade so wie es beim Sammler zu Hause aussehen könnte. Zu diesem Mix mag den Innenarchitekten auch der Künstler selbst inspiriert haben, der für die knapp fünf Jahre währende Montparnasse-WG die Möbel schuf und die Räume dekorierte.

Der Besucher mäandert auf diese Weise durch das Leben des trinkfreudigen Künstlers mit dem wild abstehenden Haar, der bei den Freunden den Spitznamen Ivre Tanguy (besoffener Tanguy) trug. Aufnahmen von gemeinsamen Ausflügen in die Bretagne, ins Dorf der Mutter im Finistère, zeigt die Truppe im Streifenshirt bei Späßen, Tanguy gab gerne den Clown. Die Fülle an Büchern, für die der Künstler Illustrationen lieferte, macht deutlich, dass der Surrealismus vornehmlich eine literarische Bewegung war. Ein Höhepunkt ist die Kooperation mit Benjamin Peret, in dessen Gedichtband „Dormir, dormir dans les pierres“ (Schlafen, schlafen in den Steinen) von 1927 Tanguys sonderbare spitzkegelige Berge und gerupften Bäume wie eine perfekte bildliche Umsetzung erscheinen. Seine sphärischen albtraumhaften Landschaften, auf deren freien Feld unvermittelt einzelne Gegenstände auftauchen, sollten später auch zum Signet von Dalí werden.

In Tanguys Wüsteneien konnten sich aber auch Liebesgrüße verstecken wie bei jener Postkarte, die er 1938 Picassos Lebensgefährtin Dora Maar als Morgenpost in einem kleinen blauen Umschlag schickte. Im gleichen Jahr lernte der Künstler die amerikanische Malerin Kay Sage kennen, mit deren Hilfe er 1939 als erster Surrealist in die USA emigrieren konnte. Seite an Seite unterhielt das Paar fortan in Connecticut ein Atelier. Seine letzten Bilder bevölkern merkwürdige Maschinisten, die spitzes Schreibgerät in ihren Händen halten, das Amorphe weicht hier harten Konturen.

Von den späteren Figurationen Willy Baumeisters, der während des Nationalsozialismus in Deutschland in die innere Emigration gegangen war, sind sie gar nicht so weit entfernt. Auf beiden Seiten des Atlantiks baute sich das Menschenbild wieder neu zusammen.

Sammlung Scharf-Gerstenberg, Schlossstr. 70, bis 8. 4., Di bis Fr 10 – 18 Uhr, Sa / So 11 – 18 Uhr

Nicola Kuhn

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