Projekt "Breslau-Berlin 2016": Der Zauber der wilden Felder
So fern und doch so präsent: Wroclaws Kunst- und Kulturszene machte immer schon von sich reden. Ein Besuch in der Stadt lohnt sich.
„Wilde Felder“ ist der Titel der von Dorota Monkiewicz, Direktorin des Museums für Gegenwartskunst in Wroclaw, kuratierten Ausstellung. Sie präsentiert die Geschichte der avantgardistischen Kunstszene in Wroclaw, ab dem Moment, in dem Breslau zu Wroclaw wurde. Die Ausstellung war vergangenes Jahr in Warschau in der Nationalgalerie Zacheta zu sehen. Dann wanderte sie durch ganz Europa.
„Wilde Felder“ ist eine treffende Beschreibung des Gebiets, in dem Wroclaw liegt. Aus deutscher Perspektive irgendwo im Osten, befand sich die Stadt für die Polen tatsächlich in einer Art Wildem Westen. Denn Wroclaw lag und liegt immer noch fern. Noch vergangenes Jahr dauerte eine Zugreise von Warschau nach Wroclaw (360 Kilometer) sechs Stunden – genauso lange wie nach Berlin (600 Kilometer). Von Krakau nach Wroclaw (260 Kilometer) – immer noch den ganzen Tag. Kein Wunder also, dass vielen Polen Wroclaw immer noch unerreichbar vorkommt.
Aus dem Filmstudio der Stadt stammt ein Viertel aller polnischen Produktionen
Dennoch – obwohl es eine unbekannte Stadt sein könnte – ist sie sehr präsent. Aus dem Wroclawer Filmstudio, welches 1952 auf dem ehemaligen Gelände der Breslauer Messe gegründet wurde, stammt ein Viertel aller polnischen Filme. Zu diesen gehört unter anderem die berühmte Trilogie über Kargul und Pawlak, entzweite Nachbarn, die nach dem Krieg ins neue westliche Gebiet gezogen sind und nun wieder einen Zaun teilen müssen. Jeder Pole und jede Polin kennt Zitate aus diesen Filmen auswendig; sie sind in die polnische Sprache übergegangen. Auch Filme von Andrzej Wajda, Roman Polanski, Wojciech Jerzy Has, Krzysztof Kieslowski und Andrzej Zulawski wurden in diesem Studio gedreht. Im Jahr 2011 wurde es in das Zentrum für audiovisuelle Technologien umgewandelt und ist nach wie vor in Betrieb.
Der Film spielt für Wroclaw und seine Kultur eine große Rolle, macht es zu einem wichtigen Punkt auf der Landkarte und unterscheidet es von anderen polnischen Städten. Dies ist dem Filmfestival „T-Mobile Nowe Horyzonty“ (T-Mobile Neue Horizonte, früher als „Era Nowe Horyzonty“ bekannt) zu verdanken, das seit Sommer 2006 in Wroclaw stattfindet. Der Spiritus Movens des Geschehens, Roman Gutek, hatte vor Jahren die Idee, ein Festival ins Leben zu rufen, das anderes Kino präsentiert: unkonventionell, kompromisslos, künstlerisch.
Filme, die auf dem Festival gezeigt werden, sind im gewöhnlichen Kinoprogramm nicht zu finden. Herr Gutek selbst ist eher mit der Hauptstadt Polens verbunden: Dort lebt er und leitet seine Filmdistributionsfirma, aber er entschied sich für Wroclaw. Hier fand er die richtige Stimmung und Unterstützung der Stadtregierung. Nach nunmehr zehn Jahren ist die letzte Juliwoche für Anwohner und Kinoliebhaber ohne das Filmfestival nicht mehr vorstellbar.
Mit Warschau kann man ohnehin nicht konkurrieren - besser man bietet Alternativen
Sicher ist noch immer die Entfernung zu Warschau von Nachteil. Alles, was in Polen wichtig ist, muss in Warschau geschehen. Die Hauptstadt saugt alle ein und zieht die ganze Aufmerksamkeit auf sich, besonders wenn es um Kunst und Kultur geht. Für andere polnische Städte ist es schwierig, mit Warschau zu konkurrieren. Besser also, sie bieten Alternativen – und das ist eigentlich genau das, was Wroclaw tut. Seit den 60er Jahren entwickelte sich in der Hauptstadt Schlesiens eine sehr alternative kulturelle Szene. Vielleicht lag es daran, dass Wroclaw stets vom Zentrum Polens entfernt war, sodass es kaum wahrgenommen wurde und dadurch mehr Freiheiten genoss. In Wroclaw konnte Jerzy Grotowski seine Ideen für das Theater verwirklichen, die zu einer wichtigen Theaterreform führten. Hier war Stanislaw Drózdz, ein bedeutender Schöpfer Konkreter Poesie, tätig. Hier lebt und arbeitet Natalia LL, eine feministische Künstlerin, deren Werke gerade die Welt erobern.
Und in Wroclaw kann es auch lustig sein. In den 80er Jahren gründete hier eine Studentengruppe im Protest gegen die kommunistische Regierung die „Pomaranczowa Alternatywa“ (Orangene Alternative). Durch ihre Aktionen auf den Straßen Wroclaws äußerten sie nicht nur ihren Widerspruch, sondern wiesen auch auf die Absurdität des Alltags hin. Zum Symbol der Bewegung wurde ein Zwerg, dessen kleine Bronzeskulpturen man heute überall in der Stadt findet.
In Wroclaw wird der wichtigste Preis für junge Malerei vergeben, der Geppert-Preis. Seit Jahren findet das Festival „Survival“ statt – stets an erstaunlichen, unentdeckten Orten. Bald macht das Nationalmuseum eine neue Abteilung für Moderne Kunst auf. Die Staatsgalerie BWA, die aus drei Filialen besteht – Awangarda, Design und SiC – gilt anderen polnischen Staatsgalerien als Vorbild. Das Geheimnis? Ein junges engagiertes Team, ein Schwerpunkt in der Unterstützung interessanter lokaler Künstlerinnen und Künstler sowie ein Programm mit interdisziplinären Projekten.
Das Museum für Gegenwartskunst sitzt vorübergehend in einem Bunker
Junge Künstler fühlen keinen Drang, aus Wroclaw wegzuziehen. Sie studierten hier an der Kunstakademie, hier haben sie ihre Ateliers und möchten einfach weiter in der Stadt bleiben. Sie reisen, stellen überall in Polen und in der ganzen Welt aus, kehren aber immer wieder zurück und unterstützen die Stadt und ihre Szene. Olaf Brzeski, Krystian Truth Czaplicki, Piotr Skiba, um nur ein paar Namen zu nennen. Zu der Gruppe gehört auch Kama Sokolnicka, die bald in Berlin im Künstlerhaus Bethanien einen dreimonatigen Aufenthalt beginnt.
In Wroclaw muss man nicht unbedingt ein Privatsammler werden, um in einem Bunker Kunst aufzubewahren. Der runde Bau am Plac Strzegomski war während des Krieges als Zuflucht für die Zivilbevölkerung gebaut worden und diente danach als Lebensmittellager, bis er 2011 zum temporären Sitz des Museums für Gegenwartskunst wurde. Und wie vieles Temporäre in Polen bleibt er womöglich noch lange Hauptsitz des Museums. Für die untypischen und ziemlich schwierigen Räumlichkeiten konzipierte Direktorin Monkiewicz ein Programm, das einer klaren Linie folgt. Was im Bunker präsentiert wird, ist Kunst aus Wroclaw: entweder junge Generation oder Nestoren der Wroclawer Avantgarde. Hinzu kommen aktuelle Tendenzen polnischer Kunst.
Wichtig ist auch, den kulturellen Kontext der Region, in der Wroclaw liegt, deutlich zu machen und einen Dialog zwischen Polen, Tschechien, der Slowakei und selbstverständlich Deutschland zu führen. Dank Monkiewicz und ihrem fleißigen kuratorischen Team bekam das Museum viel Aufmerksamkeit und positive Rückmeldung aus weiten Teilen Polens. Auch für die Anwohner Wroclaws wächst es in die kulturelle Landschaft ein. Seine Zukunft ist jedoch offen; die Direktorin wird zunächst nur bis Ende des Jahres ihre Stelle behalten.
Bis dahin also kann man noch sorglos einen Kaffee in der Cafeteria auf dem Dach des Bunkers trinken und den Blick über die Stadt genießen. Was aber kommt, wenn Wroclaw keine Kulturhauptstadt Europas mehr ist? Für dieses Ereignis, auf das man sich schon seit mehreren Jahren vorbereitet, gab es Geld und viel Unterstützung: für die großen Projekte, die tollen Namen und die speziellen Gäste. Doch bleibt der Hype danach, wenn die Lichter der Kulturstadt ausgeschaltet werden? Man wird sehen.
Die Autorin ist Kuratorin, Projektmanagerin und Kunstkritikerin, wurde in Warschau geboren und lebt seit 2010 in Berlin. Am 11. Juli um 19 Uhr moderiert sie beim Verein Berliner Künstler ein Gespräch über die Wroclawer Kunstszene.
Paulina Olszewska