Kultur: Der Wind spielt Mundharmonika
Klang, Tanz, Sprache: Nevin Aladag erforscht Berlin mit Performances und Installationen. Ein Spaziergang mit der Künstlerin
Sie hatte einmal einen Schlüssel zu der alten Fabrik. Nevin Aladag legt den Kopf in den Nacken. Dort oben auf dem Flachdach ließ sie junge Frauen tanzen, mit Blick von Treptow über ganz Berlin und mit dicken Kopfhörern auf den Ohren. Im Rhythmus der Musik hackten die Tänzerinnen ihre spitzen Absätze in teerpappengedeckte Podeste. Zu welchen Songs sie sich bewegten, konnten die Zuschauer nur lesen, nicht hören: Auf den T-Shirts der Frauen standen Titel und Dauer der Stücke, zum Beispiel „I Really Had Enough (3:62 Min)“. Eine besondere Zeit sei das gewesen, sagt die Künstlerin, diese letzten sonnigen Tage des Sommers 2007 auf der Kunstfabrik am Flutgraben, „eine schöne, aber auch traurige Woche“.
Sie zeigt auf helle Streifen in der Ziegelwand. Dort seien Simse abgeschlagen worden, um DDR-Bürger an der Flucht in den Westen zu hindern. Aladag ließ ihre Zuschauer durch die Fabrik führen und ihnen die deutsch-deutsche Geschichte an der Grenze zu Kreuzberg erläutern. Auf dem Dach stand das Publikum dann auf Stegen, auf denen die Grenzsoldaten gewacht hatten. Aladag schaut in den Flutgraben, einen schmalen Kanal. „Hier sind viele erschossen worden“, sagt sie. Auf der anderen Seite entspannen die Gäste im Schatten der Ufercafés.
Es ist ein heißer Freitag im Mai, eine Woche vor der Eröffnung ihrer Ausstellung „Dim The Lights 6:07 Min“ bei Tanas in Tiergarten, dem Ausstellungsraum für zeitgenössische türkische Kunst. Es ist ihre erste institutionelle Einzelschau in Berlin, seit sie 2003 von München hierher zog, als Stipendiatin des Künstlerhauses Bethanien. Dort zeigte die 1972 im osttürkischen Van geborene Künstlerin weiße T-Shirts, deren Vorderseiten mit ebenfalls weißer Blindenschrift bedruckt waren. In den Kragen steckten Wäschezeichen mit den Worten „kurd.nevin aladag“ oder „deutsch.nevin aladag“.
„Sie kam als sehr junge Künstlerin und stand lupenrein in den aktuellen Diskursen, etwa zur Aktivierung des öffentlichen Raums oder zu Gruppenbewusstsein“, erinnert sich Bethanien-Leiter Christoph Tannert. „Ihren politischen Anspruch hat sie sehr subtil umgesetzt wie in ihrem Video von der türkischen Familie Tezcan, die vor Aladags Kamera verschiedene Tänze aufführt.“
Inzwischen wird Nevin Aladag von den Galerien Wentrup in Berlin und Gitte Weise in Sydney vertreten. Bisher hat sie vor allem in Westeuropa ausgestellt, oft gemeinsam mit türkischen Kollegen, obwohl sie ihre Herkunft nie wieder künstlerisch thematisiert hat. Doch in Stuttgart, wo sie aufwuchs, war sie im April zeitgleich mit Sener Özmen ans Künstlerhaus eingeladen. Der Direktor wünschte sich einen „Dialog“ zwischen den beiden Soloschauen. Sie habe viel mit Sener gescherzt, sagt Aladag, sehe aber kaum Verbindungen zwischen ihrer Kunst und der von Özmen, die vom harten Leben in der kurdisch geprägten Großstadt Diyarbakir handelt. Aber sie könne so schlecht „Nein“ sagen, es sei doch Seners erste Chance einer Einzelausstellung gewesen.
Bei Tanas wird sie nun eine verzinkte Metallplatte präsentieren, in die sie mit Stilettos Dellen getanzt hat, so hat sie es vorhin erklärt und dabei mit den Zeigefingern auf die Tischplatte getippt. Sie wird auch ein Makramé-Gespinst aus scharfem Drahtseil zeigen und ihre Trilogie „City Language“, die auf der Istanbul-Biennale 2009 zu sehen war. In den kurzen Videos kommen Instrumente vor, die ohne Menschenhand Musik machen: Rundhölzer klackern eine buckelige Gasse bergab, Tauben picken an den Saiten einer Laute. Klang, Raum und Bewegung werden in diesem Porträt Istanbuls eins. Aladag zeigt oft Möglichkeiten nonverbaler Verständigung, die auch Laien beherrschen: Mit der präzisen Handschrift einer Profikünstlerin appelliert sie in unterschiedlichen Medien an die Fähigkeiten von Amateuren. „Ihre Arbeiten sind originell, geistreich und positiv. Sie vermitteln, was viel zu selten in der Kunst vorkommt: Lebensfreude“, sagt Tanas-Leiter René Block.
Neben Wien, Amsterdam, Bern, Hamburg taucht in ihren Arbeiten immer wieder Berlin auf. Durch Marzahn ist Aladag mit dem Auto gekreuzt und hat eine Mundharmonika aus dem Fenster gehalten, die Akkorde blies bei Tempo 50 der Fahrtwind. In der Kreuzberger Hector-Peterson-Schule führte sie 2010 für das HAU eine viertägige Basketball-Performance mit Jugendlichen auf. Jetzt steht sie am Zaun des Schulhofs und muss lachen: „Ich bin nicht gut darin, Schüler vier Tage lang zu motivieren, während die WM läuft.“
Die Autofahrt von Treptow hierher wird zur Zeitreise. An der Spree steht die Barrikadenskulptur von Olaf Metzel, bei dem sie in München Bildhauerei studierte. Für das Ballhaus Naunynstraße ließ sie eine Textcollage in den Fenstern einer Wohnung aufführen. Am Kottbusser Tor drehte sie mit ihrem älteren Bruder, dem Filmregisseur Züli Aladag, und so kommt das Gespräch mal auf Shermin Langhoff vom Ballhaus, mal auf Eltern, Geschwister, Nichten, mal auf den Klüngel kurdischer Künstler, die behaupten, es gebe in Diyarbakir keine Künstlerinnen. Ob man das glauben kann?
Das HAU steht schräg gegenüber der Schule und vor dem Theater das „Narrenschiff“ der Klangkünstler Janet Cardiff und George Bures Miller, eine begehbare Dschunke mit tönendem Innenleben. Aladag möchte es sich ansehen. Zuvor aber will sie jetzt einmal die Getränke bezahlen, schließlich hat sie dieser Tage ein Stipendium des Berliner Senats erhalten.
Auf der Terrasse des Theatercafés kommt sie am Tisch von Leiter Matthias Lilienthal vorbei, der begrüßt sie mit Kuss rechts und links. Dann bringt Aladag zwei Apfelschorlen und zündet eine ultraleichte Zigarette an. Sie rauche nur bei Stress, sagt sie und zählt auf, was sie plant: den Katalog zur Schau bei Tanas, eine Ausstellung mit Soundarbeiten im norddeutschen Hohenlockstedt und in Istanbul spätsommers eine Performance. „Bis dahin habe ich wieder aufgehört zu rauchen“. Nevin Aladag packt die Zigarettenschachtel ein und schultert die Handtasche. Kurz vor der Gangway zur Dschunke dreht sie sich um und winkt noch mal.
Tanas Berlin, Heidestr. 50, bis 30. Juli, Di - Sa 11 - 18 Uhr, Eintritt frei
Claudia Wahjudi
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