Wie Poesie Denken und Fühlen verändert: Der Wind, der Wind, das himmlische Kind
Amsterdam, Chandigarh, Québec: Wie Poesie Denken und Fühlen verändert.
Joris Ivens drehte sein Leben lang Dokumentarfilme. Je älter er wurde, desto länger blieb er seinem Geburtsland, den Niederlanden, fern. Am Ende hatte er nur noch einen Wunsch: Er wollte den Wind filmen. Aber wie filmt man den Wind? Ivens bestieg einen Berg in China, mitten in einer Sandwüste. Er pflanzte einen Stuhl in den Sand und setzte sich, um auf das Aufkommen des Windes zu warten. Seine Frau bediente die Kamera. Niemals zuvor war der 80-Jährige in seinem eigenen Film zu sehen gewesen. Doch Ivens litt an Asthma, und plötzlich musste er den Berg hinunter.
Später versuchte er es erneut. Aus Angst vor dem Sturm hatte die ganze chinesische Filmcrew in einem Zelt hinter dem Gipfel Schutz gesucht. Ivens nahm wieder Platz. Und dann kam der Wind. Sein greises Haar wehte umher, und sein Gesicht strahlte, er schaute überglücklich, als ob er endlich wieder frei atmen könnte. Der Wind blies ihm den Sand in die Ohren, seine Augen begannen zu tränen, seine Jacke flatterte, die Bärte der Kamele, die die Ausrüstung des Filmteams getragen hatten, wehten hin und her. Der Sand stieg in kleinen Wirbeln auf. Ivens rief etwas, aber was, war nicht mehr zu verstehen. Er schrieb Geschichte, die Geschichte des Windes. Und er starb.
Poesie wird meiner Erfahrung nach auf viele Arten präsentiert. Je mehr man reist, desto öfter stößt man auf die Unterschiede. Jedes Mal, wenn ich mein Gedicht über Ivens vorlese, der auf den Wind wartet, ist die Art, wie es ankommt, abhängig von der Einleitung. In England werden Gedichte oft ausführlich eingeleitet. Manchmal bekommt man den Eindruck, dass Menschen those damn poems nur schreiben, um eine nette Geschichte darum herum erzählen zu können. Leite ich das Ivens-Gedicht nicht ein, versteht man nur noch das Wort „Wind“.
Wo ich auch bin, lese ich das Gedicht auf Niederländisch. In jeder anderen Sprache fühle ich mich als Schauspieler und spüre den Rhythmus nicht. In manchen Ländern möchte man erst die Übersetzung hören. Dann geht die Bedeutung dem Klang voraus. Manchmal muss man die Einleitung einem Moderator überlassen, dann wird Ivens ein Forscher über die Entstehung des Windes in China. Mit Poesie auf Reisen zu gehen, bedeutet, dass man nicht nicht nur Übersetzungen braucht, sondern auch eine Erweiterung des eigenen Blickfeldes.
Für Dichter ist es immer eine Frage, wohin man reist und welche Gedichte man mitnimmt. Eine Übersetzung machen zu lassen, bedeutet oft: Wohin fahre ich? Sprechen sie dasselbe Französisch in Marseille wie in Montreal, und meine ich jenseits der Grammatik auch die Sprache, die als Poesie verstanden wird? Kann man mit einer chinesischen Übersetzung nach Taiwan? Julian Barnes zufolge soll es nicht eine Arche gegeben haben, sondern ungefähr sieben.
Noah war the lucky one. So ist unser Wissen über das Tierreich beschränkt. Man stelle sich die Kreuzungen vor zwischen Gliederfüßern und Säugetieren, die Fische, die auf Füßchen laufen, das zustimmend nickende einbeinige Känguru, das 30 Meter hoch springen konnte, und den singenden Seelöwen mit den drei Schwänzen. Ein unbekannter Reichtum an Zirkusattraktionen ist uns durch die Sintflut genommen worden.
Ich lese diese Gedanken nicht in Julian Barnes’ „Geheimnis der Welt in zehneinhalb Kapiteln“, sondern im Vorwort zu der Anthologie „Hotel New Flanders“, einer Auswahl niederländischsprachiger Poesie aus Belgien seit 1945. Eine Anthologie ist eine Arche, die eine Vielzahl von Gedichten vor dem Untergang bewahrt. Die Bibliothek „Het Toreken“ (Das Türmchen) des Poesiezentrums in Gent liegt über dem Meeresspiegel, und ihre Erhaltung ist nicht zuletzt eine Frage der Papiersorte und der Konservierung. Der Gedanke der sieben Archen ist sympathischer. Derjenige, der die Anthologie zusammengestellt hat, sagt damit, dass aus dem Material auch sechs vollständig andere Varianten zu machen wären.
Im selben Vorwort ist zu lesen, dass die Niederlande für die flämische Poesie ebenso Ausland sind wie etwa Indien. Ein merkwürdiger Gedanke, wenn man bedenkt, dass diese Gedichte in der gleichen Sprache geschrieben sind und auch im Widerspruch zu den Gedichten selbst, in denen Mottos und Zitate von Niederländern wie Lucebert und Rutger Kopland vorkommen. Wenn man also auch sechs andere Anthologien zusammenstellen kann, unterstreichen sie dann auch die Autonomie der flämischen Dichtkunst?
Poesie ist, wo man auch hingeht, immer wieder ein wenig anders. Der Unterschied zwischen Flandern und den Niederlanden ist misslich, es wäre klüger, in Indien zu beginnen. Natürlich ist Poesie aber sogar an ein- und demselben Ort und innerhalb der gleichen Sprache und Kultur unterschiedlich und es existieren notwendige Unterschiede zwischen den einzelnen Dichtern. Ich verstehe unter Poesie nicht nur Gedichte, sondern auch die Rolle des Dichters, den Ort, an den Gedichte gebracht werden, und die Art und Weise, wie diese präsentiert werden.
Die Niederlande haben seit zwölf Jahren ihre Poesielandschaft neu geordnet. Es gibt einen landesweiten Tag des Gedichts nach dem Modell des National Poetry Day in Großbritannien. Es gibt einen „Dichter des Vaterlands“ (ein ziemlich ironischer Titel), so wie es in der englischsprachigen Welt einen Poet Laureate gibt. Wichtiger erscheint mir, dass die niederländische Poesie weniger narrativ ist als die britische. Schulkinder haben als Pflichtfach „Public Speaking“, wobei sie Gedichte auswendig aufsagen. Ich habe in Wales gesehen, wie sie sich beim Frühstück in Schuluniform diese Gedichte in den Kopf prügeln. In Kingston upon Hull war ich dabei, wie ganze Familien mit ihren pubertierenden Kindern und großen Tüten Chips Tony Harrison zuhörten, der den Cumquat-Baum besang.
Beim Poesiefestival im indischen Chandigarh, hat man mir berichtet, gibt es vom Morgenrot bis zur Dämmerung Lesungen. Die Tradition will es, dass man aufsteht, wenn einem ein Vers gefällt und ihn Richtung Bühne zurückskandiert. Manchmal erhebt sich ein Herr, manchmal eine ganze Gruppe oder das gesamte Publikum und schleudert das Gedicht wie ein Echo zurück zum Dichter. Poesie ist überall etwas anderes.
In Québec fragt eine Frau, ob wir in Amsterdam Englisch oder Französisch sprechen. Als ich sage, dass wir eine andere Sprache haben und ich gerade zwei Gedichte in dieser Sprache vorgelesen habe, ruft sie „Oh, Arabisch!“ Ein Mann mit einem Cowboyhut auf dem Kopf packt meine Hand, kneift sie leicht und sagt, dass ich nicht integer sei, weil ich nicht Französisch gelesen habe, das doch die Sprache der Poesie ist.
Ich liebe Québec, und zwar nicht wegen der Neigung, Poesie als Fahne im Sprachenstreit zu hissen, sondern wegen der Ruhe der Menschen und ihrem Mangel an Machismo und wegen dieser merkwürdigen Häuser mit Außentreppen und Balkonen, die architektonisch keinen Deut aufeinander abgestimmt sind. Ein Poesiefestival ist oft wider Willen wie ein European Song Contest en miniature.
So erzählte mir eine Dichterin aus Sarajevo etwas über einen Dutchbatter, einen niederländischen Uno-Soldaten, der auf die Mauer des Camp Srebrenica als Graffiti auf die Mauer kalkte: „No teeth? A mustache? Smells like shit? Bosnian girl!“ Ein Gedicht anderer Art. Nachdem alle Männer ermordet und die Frauen und Kinder abgeführt und die Uno-Blauhelme verschwunden waren, blieb es dort zurück als Dankesbrief.
Beim Überschreiten von Grenzen kann man erwarten, dass es Unterschiede gibt. Die Form des Brotes, die Verkehrsschilder, die Münzarten, wie Familien und Kinder gekleidet sind und über die Straße laufen. Nicht immer rechnet man mit dem Unterschied der Poesie. Er kann einen unverhofft packen wie ein tropischer Virus, gegen den man nicht geimpft ist. Er kann eine Selbstverständlichkeit umwerfen. Gedichte vorlesen ist oft so etwas wie russisches Roulette, im Schnitt löst sich einmal von sechs Malen eine Kugel.
Erik Lindner, 1968 in Den Haag geboren, lebt als Lyriker, Kritiker und Herausgeber der Literaturzeitschriften „De revisor“ und „Terras“ in Amsterdam. Er ist Autor von vier Gedichtbänden im Verlag De Bezige Bij. Deutsche Übersetzungen und Audiodateien sind auf www.lyrikline.org zu finden. 2013 erscheint sein erster Roman. Derzeit ist er Gast des Berliner Künstlerprogramms des DAAD. Seinen Essay hat Rolf Brockschmidt aus dem Niederländischen übersetzt.
Erik Lindner
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