Die Russische Revolution 1917: Der Urknall des 20. Jahrhunderts
Die Russische Revolution setzte mit einem Paukenschlag die Tonart kommender Jahrzehnte. Das Deutsche Historische Museum in Berlin zeigt dies eindrücklich.
Mit der Zugfahrt Lenins aus dem Schweizer Exil nach St. Petersburg beginnt die Oktoberrevolution, nicht „die“ Russische Revolution schlechthin, sondern ihr Höhe- und Wendepunkt mit der Machtergreifung der Bolschewiki in der Hauptstadt des Russischen Reiches. Mitorganisiert hat die Fahrt quer durch Deutschland der Schweizer Sozialist Fritz Platten. Ihn hat die Geschichte vergessen. 1923 ging er in sein Gelobtes Land, die im Jahr zuvor gegründete Sowjetunion.
Sie dankte es ihm nicht. 1937 wurde seine Frau im „Großen Terror“ Stalins verhaftet und hingerichtet, im Jahr darauf kam er selbst in Lagerhaft im hohen Norden. Von dort schrieb er Briefe und Postkarten an eine Vertraute, in denen kein böses Wort über seine – wie in Millionen anderen Fällen willkürliche – Verurteilung steht. Der Geheimdienst las schließlich mit. Genützt hat es nichts; nach vier Jahren Schwerstarbeit am Polarkreis wurde Platten 1942 erschossen.
Die Russische Revolution betraf nicht allein Russland
Es sind nur ein paar Postpapiere, die von Platten geblieben sind; dazu ein – merkwürdig bürgerlicher – Straßenhut. Unscheinbar liegen sie in der Ausstellung „1917. Revolution. Russland und Europa“, die das Deutsche Historische Museum am Dienstagabend eröffnet hat. Unscheinbar, aber beispielhaft dafür, was die Ausstellung besagen will: dass die Russische Revolution kein einzelnes Ereignis war, sondern eine Epoche, dass sie nicht allein Russland betraf, sondern ganz Europa, und dass sie Hoffnung und Vision war und zugleich Entfesselung jahrzehntelanger, fürchterlicher Gewalt.
Meuterei, Aufstände und Gewalt gab es bereits im Vorfeld
Die Revolution hat die Gewalt nicht er-, sie hat sie vorgefunden. Sie hat eine Vorgeschichte, zuallererst im Weltkrieg, den die russischen Bauern nicht länger führen wollten, und zuvor im gescheiterten Aufruhr von 1905 und der Agonie der dahinsiechenden, zur Reform unfähigen Zarenherrschaft. Der „Panzerkreuzer Potemkin“, den die meisten Zuschauer wohl für ein Epos der Oktoberrevolution halten, spielt tatsächlich im Jahr 1905 und diente zugleich der Legitimation des „Großen Oktober“. Krieg, Meuterei, Aufstand, Chaos, Bürgerkrieg, alliierte Intervention, gewaltsame Stabilisierung, all das fließt spätestens ab 1915/16 ineinander und dauert fort, Lenin macht mit dem „Roten Terror“ willkürliche Gewalt, Folter und Geiselerschießungen zum Mittel der Politik und lässt auf den hoch im Norden gelegenen Solowetzki-Inseln das erste Konzentrationslager – er selbst nennt es so – einrichten, das den bald überall geschaffenen „Arbeits- und Besserungslagern“ zum Vorbild dient.
Stalins "Großer Terror"
Eine Atempause gibt es in den mittleren zwanziger Jahren, ehe mit Zwangskollektivierung, Industrialisierung und Stalins „Großem Terror“ die nächste Stufe erreicht wird. Menschenströme in beide Richtungen, von Russland fort und nach Russland hinein, setzt die Revolution in Gang, von den Völkerwanderungen innerhalb des Riesenreiches abgesehen.
Von Malewitsch bis Kandinsky - die Kunst blüht auf
Und doch ist die Ausstellung „schön“. Das ist kein Widerspruch. Es sind „die zwei Seiten einer Medaille“, die die Kuratorinnen, Kristiane Janeke, ehemalige Leiterin des Museums Karlshorst, und Julia Franke bewusst zeigen wollen. Für die „schöne“ Seite steht die Kunst der Avantgarde, die sich aus dem zaristisch-orthodoxen Kanon gleichsam herauswindet wie ein Schmetterling, in alle Richtungen fliegt und flattert und am Ende von den bodenständigen Realisten und ihrer Anpassungskunst beiseite geschoben wird.
Man ist dennoch immer wieder erstaunt, was in diesem kulturellen Laboratorium alles ausprobiert wurde – und was, trotz aller Verfemung und Verfolgung, die Zeiten überstanden hat, von den zarten Zeichnungen Malewitschs bis zu Kandinskys bemalten Porzellanen. Die „Ambivalenz“, von der die Kuratorinnen sprechen, zeigt sich in der enormen kulturellen Blüte des geschundenen Landes, während zahllose Sowjetmenschen buchstäblich im Dreck vegetieren.
Leihgaben aus dem ganzen Land
Rund 500 Objekte zeigt die Ausstellung, 180 davon kommen aus Moskauer Museen. Das allein ist der Feststellung wert: Ungeachtet der politischen Spannungen funktioniert der wissenschaftliche Austausch. Großartige, gar nicht zu erwartende Leihgaben sind zu sehen, wie das hochsymbolische Gemälde „Völkerfreundschaft“ des früh verstorbenen Stepan Karpow von 1924, das die Völker der Sowjetunion in allegorischer Form unter dem roten Banner samt Hammer und Sichel vereint. Hammer und Sichel finden sich sorgsam aus Metallwerkzeugen zurechtgebastelt in einem Wappen von 1927. Oder das Monumentalgemälde des Regime-Künstlers Isaak Brodski, „Feierliche Eröffnung des II. Kongresses der Komintern“ im Juli 1920, auf dem Miniaturporträts hunderter Delegierter zu erraten sind, tatsächlicher oder der politischen Bedeutung halber hinzugemalter.
Die Nachwehen in Europa
Mit diesem Riesenbild aus dem Staatlichen Historischen Museum in Moskau wird der Blick gelenkt auf den folgenden, vielleicht noch wichtigeren Teil der Ausstellung, der die Nachwirkung der Russischen Revolution in sechs europäischen Ländern beleuchtet. Die Bolschewiki sahen die Weltrevolution kommen, zumindest halfen sie ihr nach Kräften nach. Das gelang für kurze Zeit in Ungarn, schon kaum in Deutschland – dem Hoffnungsland aller Marxisten! –, vermischte sich in Italien mit der Enttäuschung über den vermeintlich „geschändeten“ Sieg zur explosiven Mischung des Faschismus, dem der Ex-Sozialist Mussolini eine geradezu bolschewistische Gewaltsamkeit einflößte. Im Siegerland Frankreich wurden die Kommunisten in die Dritte Republik eingehegt, und nur Großbritannien zeigte sich damals wie auch später resistent gegen ideologische Verführung. Allein Polen unter dem autoritären Marschall Pilsudski bietet dem Expansionsdrang der Roten Armee Widerstand, gewinnt – das berühmte „Wunder an der Weichsel“ – und wird fortan selbst zum „Völkergefängnis“ seiner Minderheiten.
Befürworter und Gegner in Deutschland
Die Revolution weckte überall in Europa Gegenkräfte, nicht nur antibolschewistischer, sondern auch antisemitischer Art. Kommunisten wurden mit Juden gleichgesetzt, letztere verfolgt und für die Revolution haftbar gemacht; ein Muster, das im innerrussischen Bürgerkrieg nahtlos an die Pogrome der Zarenzeit anknüpfen konnte, in Mitteleuropa hingegen langfristig Wirkung zeigte.
Im Kapitel zu Deutschland findet man denn auch Hitlers „Mein Kampf“, dem 1922 die Schrift des NS-Ideologen Alfred Rosenberg vorausgeht, „Pest in Rußland. Der Bolschewismus, seine Häupter, Handlanger und Opfer“. Dagegen versuchte der „Rote Frontkämpferbund“ als paramilitärische Organisation der KPD, die Weltrevolution voranzutreiben; eine Fahnenspitze mit dem Dekor einer geballten Faust sowie eine Schalmei zeugen von den Straßenaufzügen der Weimarer Zeit. Otto Griebels Gemälde „Die Internationale“ von 1930 hängt etwas unglücklich am schmalen Durchgang, als Gag ist dem Bild ein Kopfhörer beigegeben, auf dem „Internationale“ schmissig-marschmäßig zu hören ist.
Raffinierte Ausstellungsarchitektur
Von Kapitel zu Kapitel wandelnd, wird der Besucher kaum gewahr, dass diese großartige, rundum geglückte Ausstellung ihr Panorama lediglich im Untergeschoss des Pei-Baus entfaltet – man meint, mindestens drei Stockwerke zu durchmessen. Die Ausstellungsarchitektur von Nadine Rasche und Werner Schulte ist raffiniert und doch immer den Objekten verpflichtet, deren Zahl groß scheint, aber nie Überfülle bedeutet. Lediglich die Zuordnung der unabdingbaren Beschriftung zu den Objekten, die von Uniform und Waffe über Foto und Film bis zu Briefen, Dokumenten, Landkarten und Gemälden allen denkbaren Kategorien entstammen, ist nicht immer eindeutig. Leider fällt der Katalog optisch gegen das beispielhafte Niveau der Ausstellungsgestaltung ab. Da gab es allein in diesem Jahr, etwa in Londons Royal Academy, gelungenere Vorbilder.
Es fehlt die Tonkulisse der Revolution
Ein am Eröffnungsabend gespieltes Klaviertrio von Schostakowitsch machte bewusst, was in den Ausstellungsräumen fehlt: die Tonkulisse, die die Ereignisse hörbar macht. Denn diese Revolution war geräuschvoll, laut von Schüssen und Explosionen und erfüllt von den Schreien der Opfer. Die Russische Revolution 1917 setzte wie mit einem Paukenschlag die Tonart, in der das 20. Jahrhundert gespielt werden sollte. Es war sein Urknall.
Deutsches Historisches Museum (Pei- Bau), bis 15. April. Katalog 25 €. Umfangreiches Begleit- sowie Filmprogramm: Infos unter www.dhm.de/Ausstellungen