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Milk
© Berlinale

Gus Van Sants Drama ''Milk'': Der unerschrockene Schwulen-Aktivist

Seine Amtszeit dauerte nur 11 Monate: Als erster homosexueller Stadtrat von San Francisco riskierte Harvey Milk sein Leben. Sean Penn spielt den Politiker in Gus Van Sants Drama „Milk“.

Wenn er die Fäuste ballt, dann so behutsam, als halte er rohe Eier in den Händen. Wenn er die Stimme hebt, schwingt Scheu mit. Und wenn er zum Megafon greift, um die Bürger von San Francisco für seine Sache zu gewinnen, agitiert er zuerst sich selbst: „My name is Harvey Milk and I wanna recruit you.“ Virilität und Schutzlosigkeit: Sean Penn als Harvey Milk vereint schier unüberwindbare Gegensätze.

So einen hat man lange nicht auf der Leinwand gesehen. Sean Penn spielt Harvey Milk, der 1977 als erster bekennender Homosexueller ein politisches Amt übernahm und elf Monate später erschossen wurde, mit einer derart hinreißenden Körperlichkeit und dem Mut zur intimen, linkischen Geste, dass man fast an den Sexappeal von Politik zu glauben beginnt. Wegen der Befremdung in eigener Sache: Milk passt nicht in den Anzug des Kommunalpolitikers, aber er trägt ihn mit koketter Lust und Laune, weil Schwulenrechte anders nicht zu erkämpfen sind. Sean Penn verwandelt Harveys Unbehagen in spielerische Neugier, in ein Staunen über die eigene Überzeugungskraft. Dafür gebührt ihm unbedingt ein zweiter Oscar (nach dem für „Mystic River“).

Regisseur Gus Van Sant hat nach seinen Anfängen mit der Straßenjungen-Odyssee „My Own Private Idaho“, nach der Amokläufer-Studie „Elephant“ und den „Last Days“ von Kurt Cobain erneut einen Protagonisten gewählt, der vor der Zeit stirbt. 1970, zu seinem 40. Geburtstag, schnappt sich der New Yorker Versicherungsangestellte Harvey Milk einen hübschen Jungen von der Metro-Treppe – eine flüchtige Begegnung, aus der Van Sant eine große Liebe zaubert. Wenn Sean Penn und James Franco alias Scott Smith einander in Sekundenschnelle verfallen, ist schlicht unvorstellbar, dass dieses erotische Versprechen, dieses Glück zweier Männer je etwas Böses, Verbotenes sein könnte.

Genau darum geht es: Noch Anfang der 70er Jahre galt ein Mann, der einen Mann liebt, als krank. Oder pervers. Deshalb wird Harvey Politiker. Als er mit Scott 1972 nach San Francisco geht und ihr Fotoladen im Arbeiterviertel Castro bald zum Kommunikationszentrum der Bewegung wird, als Harvey für die Rechte der Homosexuellen (aber auch gegen Bier von Ausbeuter-Brauereien und gegen Hundehaufen in Parks) auf die Straße geht und in die Lokalpolitik einsteigt – da steigt auch das Ressentiment aufseiten der Konservativen, der Hass auf die „Sittenstrolche“.

„Proposition 6“ hieß die Kampagne, mit der schwule Lehrer vom Schuldienst ausgeschlossen werden sollten. „Proposition 8“ hieß die parallel zur Obama-Wahl vorgenommene Abstimmung in vier US- Bundesstaaten über eine Verfassungsänderung, die nur die Ehe zwischen Mann und Frau gestattet. Auch die Kalifornier stimmten dafür – womit 18 000 Schwulenehen rechtlich infrage stehen. Die Zeiten von Harvey Milk sind nicht passé.

Jedenfalls nicht politisch. In den USA wird Gus Van Sants Biopic als erster Obama-Film gefeiert, und es stimmt ja, dass der Schwulen-Pionier und Amerikas erster schwarzer Präsident Wahlverwandte sind. Sympathische Hoffnungsträger, die einander in ihrer Unerschrockenheit ähneln, mit der sie das schier Unmögliche versuchen.

Der Unterschied liegt im Maß des Freiheitsempfindens. Van Sants 70er-Jahre Panorama – das auch auf Archivmaterial aus Robert Epsteins 1985 Oscar-prämiertem Dokumentarfilm „The Times of Harvey Milk“ zurückgreift – ist geprägt vom Aufbruchsgeist und der Libertinage der Jahre vor Aids. Für eine sehr kurze Zeitspanne konnten Homosexuelle sich ins Offene träumen. Harvey Milk war der Held dieser Hoffnung.

Gus Van Sant schart im Fotoladen, bei den Wahlkampagnen und Parties ein Ensemble um Sean Penn, das die überbordende Vitalität jener Ära reanimiert, die Furchtlosigkeit, den Übermut. Manche Weggefährten Milks treten in Nebenrollen auf oder gehörten zum Berater-Team, Kameramann Harris Savides fügt eine kräftige Portion Vintage hinzu, laszive Boy-Posen vor der nächsten Lagebesprechung. Man möchte mitfeiern, wenn Harvey eine seiner legendären Tortenschlachten anzettelt. So ist „Milk“ mehr als rekonstruierte Geschichte à la „Baader-Meinhof-Komplex“, mehr als die Ergänzung der öffentlichen Bilder um private Momente.

In „Milk“ findet etwas statt, was heute seltener ist denn je: die Liaison von Politik und Spaß, Intelligenz und Erotik, Sinn und Sinnlichkeit. Nicht nur Milk hat Charisma, sondern alle um ihn herum, sein Lover Scottie, sein blitzgescheiter Berater Cleve (Emile Hirsch) oder die schlagfertige Wahlkampfmanagerin Alison (Anne Kronenberg). In seinem Zurückzucken vor jeder Machtgeste deutet Sean Penn auch das an: Er weiß, es ist eine kurze Liaison, ein prekäres Glück. Man kann sich nicht sicher sein. Obama steht hinter Panzerglas, wenn er auftritt.

Pathos? Aber ja. Schließlich liebte Harvey Milk wie so viele Schwule die Oper. Und dass er mit Blick auf die „Tosca“-Plakate am Opernhaus stirbt, dass er am Vorabend seines Todes in der Loge weint, gehorcht weniger der Logik des Melodrams als der Chronistenpflicht: Es war so. Übrigens hat kein Schwulenhasser Harvey Milk und den demokratischen Bürgermeister George Moscone am 27. November 1978 erschossen, sondern ein politischer Rivale im Stadtrat. Josh Brolin spielt diesen Dan White als frustrierten Ehemann, und der Film deutet sehr zart an, dass Dan vielleicht selbst homosexuelle Neigungen hegte, die er mit Gewalt unterdrückt. Harvey Milk hat für solche Leute wie seinen Mörder sein Leben riskiert.

„Milk“: 10.2., 21.30 Uhr (Zoo-Palast), Kinostart am 19.2. – Epsteins Dokumentarfilm „The Times of Harvey Milk“: 11.2., 20 Uhr, 15.2., 14.30 Uhr (beide Cinestar 7)

Die Zeit vor Aids:

Hier gelingt tatsächlich die Liaison von Politik und Spaß.

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