Kulturkritik: Der unendliche Remix
Zwischen "Big Brother“ und Facebook-Autobiografie: David Shields sucht das Reale in der Kunst – und die Kunst im Realen.
Was soll das sein? Ein Manifest, wie es der Untertitel verspricht? Es hat schon die Klappentexter überfordert, das Programm von „Reality Hunger“ auf einen Nenner zu bringen. Eine Theorie, wie in einer medial durchdrungenen Welt die Fiktion die Wirklichkeit aufzehrt und die Wirklichkeit die Fiktion? Dazu fehlt diesem aus 618 nummerierten Gedankensplittern montierten Ungetüm die Geschlossenheit. Das Eingeständnis einer persönlichen Aversion gegen die Mechanismen des illusionistischen Erzählens? David Shields hat nur einen Bruchteil der Fragmente selbst geschrieben. Der Anhang nennt widerstrebend die Quellen – mit der Bitte, die Nachweisseiten herauszutrennen. Denn „wem gehören die Wörter? Wem gehören die Musik und der Rest unserer Kultur? Uns – uns allen –, auch wenn wir es noch nicht alle wissen. Die Wirklichkeit lässt sich nicht mit einem Copyright versehen.“
Was also ist „Reality Hunger“? All dies und noch viel mehr – vor allem aber eines der anregendsten kunsttheoretischen, ja kulturkritischen Werke, die zwischen den Polen Fiktion und Nichtfiktion herauszufinden versuchen, was unsere Wirklichkeit ausmacht. „Unsere Kultur", heißt es, „ist besessen von realen Ereignissen, weil wir kaum noch welche erleben.“ Das allerdings stammt, anders als jedes folgende Zitat, nicht von Shields, sondern von dem Filmkritiker Andrew O’Heir, ohne dass sich das genau überprüfen ließe. „Fast jeden Abschnitt, den ich ausgeschnitten habe, habe ich auch bearbeitet, zumindest ein wenig – um das Ganze zu komprimieren, stimmiger zu machen oder einfach nur aus einer Laune heraus. Man mixt und scratcht den ganzen Scheiß auf das Level hoch, auf dem sich der eigene Kopf befindet.“ Um das Ideal ursprünglichen Schöpfertums ist es hier also kompliziert bestellt. Allein die Frechheit, mit der sich Shields von Nietzsche bis zu Godard Sätze aneignet, wirft die Frage auf, ob der scheinbar selbe Satz in einem neuen Kontext nicht doch ein unverbrauchter Satz ist.
Doch der Reihe nach, soweit das bei 26 Kapiteln, die keiner linearen Logik folgen, überhaupt möglich ist. Wen hätte beim Lesen eines realistischen Romans nicht schon einmal die Müdigkeit angesichts von Figuren übermannt, die vor ebenso brav wie opulent ausgemalten Kulissen hin- und hergeschoben werden. Einerseits verleiht Shields seinem Unbehagen Ausdruck, dass Literatur sich in ihrem Selbstverständnis blind machen könnte für Echtzeit-Internet und SMS-Verknappung. Andererseits sieht Shields durch das technologische Anbranden von Informationen die Wahrhaftigkeit künstlicher Welten bedroht. „Wir werden heute überschwemmt mit Katastrophenmeldungen. Das Wirkliche überrollt das Fiktionale, es ist ungleich fesselnder als jedes erfundene Drama.“
Der 1956 geborene Shields gibt offen zu, dass seine Unlust, sich fiktiven Welten anzuvertrauen, auch von einer Unfähigkeit herrührt, sie herzustellen. Alle seine Versuche als Romancier sind, wie er erklärt, missglückt. Auch sein vorheriges Buch „Das Dumme am Leben ist, dass man eines Tages tot ist“ versucht sich an einem essayistisch infiltrierten autobiografischen Schreiben. „Ich liebe Literatur, aber nicht, weil ich Geschichten per se liebe. Ich finde eigentlich alle Bewegungen, die der traditionelle Roman vollzieht, unglaublich vorhersehbar, müde, gekünstelt und im Grunde zwecklos. Ich kann mich nie an die Namen von Protagonisten erinnern, an Handlungsstränge, an Dialoge, an Details der Schauplätze. Mir ist nicht ganz klar, was solche Geschichten angeblich über die condition humaine aussagen. Mich interessiert Literatur vielmehr als Form von Denken, Bewusstsein, Erkenntnissuche. Ich liebe Werke, die sich nicht nur Seite für Seite, sondern Zeile für Zeile auf das konzentrieren, worum es dem Autor wirklich geht, statt darauf zu hoffen, das, worum es dem Autor wirklich zu tun ist, werde schon irgendwie auf mysteriöse Weise aus den Rissen der Erzählung kriechen."
David Shields hat wahrscheinlich viele schlechte Romane gelesen, Konstruktionen voller Leerlauf und Geklapper. Falls seine Erschöpfung aber darauf hinausläuft, fiktionalem Erzählen grundsätzlich Redundanz vorzuwerfen, so hat er nicht verstanden, was Literatur ausmacht. Es ist doch gerade ein nicht unmittelbar auf Mitteilung gerichtetes Schreiben, das die Vieldeutigkeit, ja Unausschöpflichkeit literarischer Texte hervorbringt.
Man verzeiht Shields solche Äußerungen jedoch, weil er nicht nur das Ausbluten alles Fiktionalen erforscht, sondern auch, wie fiktionale Mechanismen nach der Darstellung von Wirklichkeit greifen. Was als dokumentarisch gilt, ist selbst in seinen nüchternsten Formen inszeniert und gefiltert: „Facebook und MySpace sind vulgäre Maschinen zur Produktion persönlicher Essays. Über meine jüngeren Brüder erfahre ich über ihre Facebook-Seiten mehr, als das je im tatsächlichen Gespräch der Fall war.“
Nur: Sind solche aktuellen Beobachtungen letztlich nicht ein alter Hut? Die von Shields mit medientechnologischer Dringlichkeit aufgeladenen Gegensätze von Fiktion und Nichtfiktion beerben nur die Begriffe von Kunst und Leben oder Wahrheit und Lüge. Und ist die Abkehr vom aus sich allein schöpfenden Genie, wie sie Picasso mit dem Wort „Kunst ist Diebstahl“ verkündete, nicht ein Mantra des 20. Jahrhunderts?
Es ist leicht, Shields vorzuwerfen, er habe seinen polyphonen Stoff, begriffsunscharf, wie er zwangsläufig ist, nicht zu Ende gedacht. Doch eine systematische Herangehensweise hätte nicht nur mehrere Leben verschlungen: Es ist gerade die Vorstellung einer möglichen Geschlossenheit, die Shields leugnet. „Reality Hunger“ ist ein Plädoyer für den zwischen Poesie und Prosa vagabundierenden lyrischen Essay: Teil einer creative nonfiction, die in diesem Buch mit John D’Agata ihren Kronzeugen gefunden hat.
Der lyrische Essay, so will uns Shields plausibel machen, verspricht nicht mehr, als er halten kann. Er ist erkennbar subjektiv, erkennbar literarisiert und bezieht sich doch erkennbar auf Tatsächliches. Während Romane erst einmal als erfunden gelten, stehen autobiografische Kenntnisse erst einmal im Ruf, faktisch Geschehenes zu verarbeiten. Jeder Text schließt so einen Pakt mit dem Leser über den Wirklichkeitscharakter dessen, was er darstellt – durch seine sprachliche Gestalt und die Gattungsbezeichnung.
Dieser Pakt kann, wie Shields am Beispiel von James Freys Bestseller „A Million Little Pieces“ zeigt, aufgekündigt werden. „Tausend kleine Scherben“ erschien in den USA als Memoir. Frey schien darin seine eigene Drogen-, Alkohol- und Knastkarriere zu erzählen. Mit Hilfe von Oprah Winfrey, die Freys Erlösungsstory in ihrer TV–Show pries, verkaufte sich das Buch über zwei Millionen Mal, bis ruchbar wurde, dass einige Details, die Frey noch öffentlich beglaubigt hatte, erfunden waren, andere maßlos übertrieben. Oprah brach öffentlich mit Frey, entschuldigte sich später – ein Tohuwabohu, aus dem Frey als der größte Schurke hervorging, den die amerikanische Literatur jemals gesehen hatte.
Shields fragt nun, ob der Betrug ersten Grades, Freys allzu freimütige Fiktionalisierung des Authentischen, und der Betrug zweiten Grades, Oprahs Gier nach dem vermeintlich Authentischen, einander nicht in die Hände spielen. Shields wird nicht müde, immer wieder in diese Kerbe zu hauen und zu erforschen, worin denn nun die Faszinationskraft solcher Geschichten besteht: im Fiktionalen oder im Nichtfiktionalen?
Dieselbe Gedankenbewegung, die Shields poetologisch nachzeichnet, findet er in Äußerungen des Dokumentarfilmers Ross McElwee wieder, dessen autobiografische Fiktionen zum Raffiniertesten gehören, was es auf diesem Gebiet gibt. Und er spürt sie in den Sampling-Techniken des Hip Hop und den Mashups der DJs auf. Am Ende schlägt er den Bogen vom Ästhetischen zum Juristischen. Denn in den USA, wo es zwar ein strenges Copyright, aber kein Urheberrecht gibt, kann man die Grundfragen je nach Perspektive wirtschaftlich oder philosophisch stellen: Warum soll ein zur Kunst erhobenes objet trouvé dem Schutz geistigen Eigentums unterliegen? Wo verläuft die Grenze zwischen Zitat, Kopie, Paraphrase und Plagiat?
All das lässt sich auch als Kommentar zu deutschen Debatten lesen. So entschieden Shields in der Causa Guttenplag wohl gegen den Dissertationsbetrüger aufgetreten wäre, so vehement hätte er das „Spiegel“-Porträt von Horst Seehofer verteidigt, für das René Pfister gerade der Henri-Nannen-Preis aberkannt wurde: Die zweifellos vorhandene, vom Autor jedoch nie mit eigenen Augen gesehene Märklinanlage im Keller des CSU-Vorsitzenden hätte ihm als schlagendes Beispiel für die unvermeidliche Imagination des Tatsächlichen gedient. Zugleich weiß Shields zumindest ein paar Sätze lang sehr genau, was mit Fiktionalität und Nichtfiktionalität gemeint ist: „Im Jahr 2008 wurden für American Idol mehr Stimmen abgegeben als für Barack Obama bei der Präsidentschaftswahl: 97 Millionen für American Idol und am Wahltag 70 Millionen für Obama.“
Die medialen Mechanismen, die im Fall von Obamas Wahlkampf griffen, unterschieden sich vielleicht kaum von der Hysterie, die rund um die US-Variante von „DSDS“ entstand. Kein Präsident zuvor hat seine Anhänger so sehr über soziale Netzwerke mobilisiert. Es sollte darüber aber nicht die Erkenntnis verloren gehen, dass in der Politik doch einiges mehr auf dem Spiel steht. „Reality Hunger“ ist intelligent genug, unser Sensorium auch dafür zu schärfen.
David Shields: Reality Hunger. Ein Manifest. Aus dem Englischen von Andreas Wirtensohn. Verlag C.H. Beck, München 2011. 224 Seiten, 18,95 €.
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