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Anpassungszusammenhänge. Kathleen Morgeneyer und Benjamin Lillie spielen ein Geschwisterpaar in Russland.
©  Arno Declair

Autorentheatertage in Berlin: Der überfütterte Betrieb

Die Berliner Autorentheatertage eröffnen mit Farid Nagims „Tag der weißen Blume“. Und Juror Till Briegleb rechnet mit der Überproduktion neuer Stücke ab.

„Innehalten!“ Normalerweise würde einem der Slogan, der dieser Tage groß über dem Eingang des Berliner Deutschen Theaters prangt, bestenfalls ein müdes Achselzucken entlocken. Nachhaltigkeitsindustrien wie die Wellnessbranche traktieren uns schließlich seit Jahren mit windigen Entschleunigungsfantasien.

Bei den Berliner Autorentheatertagen allerdings lässt ein solches Motto durchaus aufhorchen. Das Festival für Gegenwartsdramatik, das DT-Intendant Ulrich Khuon 1995 ins Leben rief und nach Berlin mitbrachte, gehört ja geradezu beispielhaft zu den Institutionen, die den Theater-Markt ständig füttern. Zur Erinnerung: Für die „Autorentheatertage“ engagiert das DT jedes Jahr einen externen Alleinjuror, der sich ein Motto ausdenkt und anschließend tapfer durch die bis zu 200 Werke liest, die dann eben so eintrudeln zu Themen wie „Sei nicht du selbst“ oder „Make me laugh“. Die besten fünf werden in einer „Langen Nacht der Autoren“ präsentiert – und in den seltensten Fällen anschließend irgendwo nachgespielt. Auch das Publikum wurde in den letzten Jahren zusehends ungeneigter.

Diese Routine dramatischer Dauer-Akquise hat Juror Till Briegleb – Theaterkritiker der „Süddeutschen Zeitung“ und Mitglied im Auswahlgremium der Mülheimer Theatertage – jetzt unterbrochen: Statt wieder „hunderte neuer Texte zu animieren“, nimmt er das Lippenbekenntnis von der Nachhaltigkeit ernst und hat sich noch mal 70 der Stücke vorgeknöpft, die seit 1995 in den „Langen Nächten“ so über die Rampe gingen. Sein nüchterner Befund: 44 müssten sich „nicht verstecken“, aber nur die Hälfte davon sei „richtig gut“. Die fünf davon, die Briegleb wiederum für kanonfähig hält, werden zum Abschluss der Autorentheatertage gezeigt.

Produziert die Bühnenkunst austauschbare Stücke?

Während die Förderung von Gegenwartsdramatik vor zwanzig Jahren tatsächlich noch mutig und wichtig war, habe sich, so Briegleb in seiner luziden Eröffnungsrede, mit der steigenden Frequenz von Uraufführungsfestivals und Schreibworkshops statt der dramatischen Qualität eher „der Verdünnungsgrad“ erhöht: Statt eigener Handschriften und Gedanken produziere der Betrieb paradoxerweise Uniformität. Sprich: Die Bühnenkunst produziere austauschbare dramatische Güter wie andere – und vom Theater unter dem Programmpunkt Kapitalismuskritik bekanntlich sehr gern gescholtene – Branchen Einkaufspassagen oder Hochhäuser.

Nicht, dass über die Folgen der „Überförderung“ und „dramatischen Überproduktion“ nicht bereits viel geredet worden wäre. Aber in den Betrieb selbst haben derartige Erkenntnisse bis jetzt selten zurückgewirkt. Insofern setzt Briegleb hier durchaus ein Achtungszeichen – wohl wissend, dass die Forderung, das Theater der Marktlogik wieder zu entziehen, leichter ausgesprochen als einzulösen ist.

Farid Nagims Eröffnungsproduktion hat Ausnahmecharakter

Zu den Nachhaltigkeits- und Wiederentdeckungsmaßnahmen à la Briegleb gehört denn auch die Eröffnungsproduktion in den Kammerspielen: Farid Nagims „Tag der weißen Blume“ – vor elf Jahren in Konstanz uraufgeführt und anschließend von der Bildfläche verschwunden. Was der russische Autor hier versucht – eine Art Geschichtspanorama, das das Moskau der Jahrtausendwende in den historischen Ereignissen der Oktoberrevolution spiegelt und umgekehrt – hat tatsächlich Ausnahmecharakter in der tendenziell eher kleinteiligen zeitgenössischen Dramatik. Insofern also, von wegen Uniformität und Austauschbarkeit, ein echtes Alleinstellungsmerkmal – das gegenwärtig freilich fast mit Tagesaktualitätsanspruch daherkommt.

In einem engen Bühnenkasten mit Sozialwohnungsappeal bei gleichzeitiger Bandprobenkeller-Atmosphäre wird zwischen zwei Geschwisterpaaren hin- und hergeswitcht, die über Zeiten und Systeme hinweg erstaunliche Ähnlichkeiten, aber dankenswerterweise auch ein paar entscheidende Differenzen aufweisen: Radik und Lilja versuchen sich im postsowjetischen Russland durchzuschlagen und scheitern in ihrer düsteren Kommunalka bereits an der frustrierten Hauptmieterin Ljudka. Heike Makatsch, die man in letzter Zeit öfter auf der Theaterbühne sieht, spielt sie mit entsprechendem Nöleinsatz am Rand der Karikatur. In der anderen Geschwisterkonstellation, rund achtzig Jahre früher, versteckt Sina ihren Bruder Pawel, einen Weißgardisten, auf der Krim vor der Roten Armee, die vornehmlich in Gestalt von Felix Goesers testosterongetränktem Tschekisten Omon Einzug hält.

Gegenwartsdramatiker bieten gutes Schauspielfutter

Regisseur Stephan Kimmig hat den knapp hundertseitigen Text geschickt zu einem Anderthalbstünder gestrafft und dabei den Beweis angetreten, dass nicht nur Shakespeare oder Ibsen, sondern auch Gegenwartsdramatiker gutes Schauspielerfutter bieten. Insbesondere Kathleen Morgeneyer und Benjamin Lillie, die in den Doppelrollen als Sina und Lilja beziehungsweise Pawel und Radik rasant durch Zeiten wie Klamottenschichten hüpfen, machen aus dem Historienabend tatsächlich eine differenzierte Studie über Menschen in unterschiedlichen Anpassungszusammenhängen.

Autorentheatertage bis 14. Juni, „Tag der weißen Blume“ wieder am 15. Juni

Christine Wahl

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