Peter Longerich: Der totale Narziss
Zwischen Analyse und Psychoanalyse: Peter Longerichs erhellende Biografie über Joseph Goebbels erklärt unter anderem seine "Ehe zu dritt".
Im Jahr 1960 schockierte Sebastian Haffner – damals noch Kolumnist des Londoner „Observer“ – das britische Publikum mit einer Anmerkung zu Goebbels, dessen Rolle im Zweiten Weltkrieg „einem ernsthaften Vergleich mit derjenigen Churchills von 1940 standhält“. Dabei war Haffner, der später in Deutschland seine „Anmerkungen zu Hitler“ publizierte, alles andere als ein Bewunderer des Nationalsozialismus, dessentwegen er 1939 nach England emigriert war. Aber für eine publizistische Provokation war er immer gut; bei anderer Gelegenheit feierte er Walter Ulbricht als erfolgreichsten deutschen Politiker seit Bismarck.
Dergleichen ließ sich weder von Hitler noch von Goebbels behaupten, und Haffner hat sich zweifellos auch in der Kategorie vergriffen, wenn er das mörderische Ende von Hitlers Propagandaminister – er vergiftete seine sechs Kinder und beging mit seiner Frau Magda Selbstmord – kommentierte, Goebbels „krönte das alles mit einem heroischen Freitod“. Allenfalls von einer „gewissen Faszinationskraft“ seiner Gestalt kann man sprechen, die Haffner an Goebbels ebenfalls konstatierte. Sie war und ist groß genug, um immer wieder Publizisten und Historiker auf den Plan zu rufen, die diese Faszination biografisch zu ergründen versucht haben. Das gilt nicht nur für unverbesserliche Gefolgsleute wie seinen Mitarbeiter Wilfried von Oven, der 1949/50 in Buenos Aires zwei Bände „Mit Goebbels bis zum Ende“ publizierte, sondern auch für seriöse Biografen wie Ralf Georg Reuth (1990) und Claus-Ekkehard Bärsch (1995), die sich aber noch nicht auf die erst 2006 vollständig publizierten Tagebücher stützen konnten. Das war erst Toby Thacker (2009) und jetzt Peter Longerich möglich, der bereits zahlreiche Arbeiten über Hitlers Entourage veröffentlicht hat, zuletzt eine umfangreiche Biografie Heinrich Himmlers.
Auch diesmal geht es bei ihm nicht unter 900 Seiten ab, was angesichts seiner wichtigsten Quelle – der 32 Bände umfassenden Edition der Tagebücher – und der umfangreichen Publizistik von Goebbels nicht verwundern kann. Andererseits sind gerade die scheinbar üppigen Quellen „das Hauptproblem einer Goebbels- Biografie“ (Longerich), da „die meisten Dokumente über den Propagandaminister von ihm selbst (oder aus seiner Umgebung) stammen und eindeutig mit dem Ziel verfasst wurden, die historische Bedeutung seiner Person zu überhöhen, ja ins Grandiose zu steigern“. Weit weniger imponierend lassen allerdings Justizakten und die noch freie Presse der Weimarer Jahre die „Kampfzeit“ des Berliner Gauleiters erscheinen, während die Akten seines späteren Ministeriums nur eine amtliche Sicht bieten und zudem lückenhaft überliefert sind. Auch für die frühesten Jahre vor 1923 fehlt es an Quellen, die nicht von Goebbels selber stammen. So bleiben insgesamt seine Tagebuchaufzeichnungen ab 1923 die Hauptquelle, der Longerich in Chronologie und begleitendem Kommentar folgt.
Als authentische Selbstbefragung können sie wohl nur bis Mitte der Dreißiger Jahre gelten, als Goebbels sie – „20 Jahre nach meinem Tod zu veröffentlichen“ – dem Parteiverlag Eher verkaufte und von da an jede neu entstehende Zeile gleichsam an die Nachwelt adressierte. Frühere Tagebucheintragungen hat er in seinem 1934 erschienenen Buch „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei“ so gründlich redigiert und retuschiert, wie er danach schon bei der Niederschrift verfuhr. Ihren Quellenwert mag das mindern, ihrem Handelswert hat es damals nicht geschadet: Longerich nennt das vereinbarte Honorar „geradezu sensationell“, Goebbels selbst bezifferte und bewertete es mit „gleich 250 000 Mark und jedes Jahr laufend 100 000 Mark. Das ist sehr großzügig.“ Sein Bewunderer Haffner bescheinigt ihm übrigens, er sei als einziger von Hitlers Paladinen „mit den angehäuften Reichtümern einigermaßen stilvoll umgegangen“. Was immer das im Blick auf seine Schwanwerder Villa, seinen Landsitz Bogensee und eine ganze Flottille von Luxuskarossen und -booten heißen mag.
Unbekannte politische Interna oder Staatsgeheimnisse des Hitler-Reichs fördern weder die Tagebücher noch Longerichs Biografie zutage, etwa über Goebbels’ Rolle in Partei und Regierung oder seine Mitwirkung an der Vertreibung und Vernichtung der Berliner, deutschen und europäischen Juden. Dass er als Mittäter mehr war als Hitlers Propagandist, steht längst fest. Auch dass er sich in frühen Jahren als „deutscher Kommunist“ – von Gesinnung, nicht von Partei – bekannte und zeitweise mit dem linken Flügel der NSDAP um die Brüder Strasser paktierte, war nicht unbekannt. Dafür kann Longerich seine über politische Gefolgschaft weit hinausgehende Bindung an den charismatischen „Führer“ Adolf Hitler mit kaum bekannten Details bis zum letzten, tödlichen Ende schlüssig rekonstruieren.
Es hätte gar nicht der – von Longerich dankbar vermerkten – Beratung durch „eine Gruppe Hamburger Psychoanalytiker“ bedurft, um sie als Folge einer lebenslangen narzisstischen Persönlichkeitsstörung zu erkennen, die selbst das Ehe- und Privatleben des Hitler-Verehrers bestimmte. „Seine Heirat mit Magda 1931“, weiß sein Biograf, „geht auf ein Arrangement zurück, das er und seine Braut gemeinsam mit Hitler getroffen hatten. Hitler, der sich in Magda verliebt hatte, stellte seine Ansprüche zurück und genehmigte – förmlich – die Eheschließung. Von diesem Zeitpunkt an wurde Hitler als Mitglied der Familie Goebbels behandelt.“
Longerich spricht bewusst von einer „Ehe zu dritt“, allerdings ohne Details zu liefern, die der Regenbogenpresse genügen würden. Belegt sind häufige Besuche von Magda Goebbels bei Hitler auch ohne ihren Mann, gemeinsame Ferien und – „soweit er dazu überhaupt in der Lage war“ - ein enges Verhältnis Hitlers zu den Goebbels-Kindern, deren Namen alle mit „H“ wie Hitler begannen. Als Magda sich 1943 einer Gesichtsoperation unterziehen sollte, riet Hitler fürsorglich ab – „wegen der zu befürchtenden Entstellungen“. Auch in ihren Ehekrisen erwies er sich als verlässlicher Hausfreund, der Goebbels in die nurmehr als Zweckgemeinschaft empfundene Ehe zurückzwang; der fügte sich.
Die Besuche Magdas bei Hitler „vermerkte er in seinem Tagebuch mit jener Lakonie, in die er sich immer flüchtete, wenn er unangenehme, aber unabänderliche Vorgänge beschrieb“. Sein unersättlicher Narzissmus ertrug dennoch nicht, dass ihm sein Idol Hitler wegen seiner Ehekrise zeitweise die Gunst versagte, bis er sie durch bedingungslose persönliche und politische Gefolgschaft zurückgewann. Am Ende fühlten sich die beiden Goebbels auf unterschiedliche Weise Hitler so eng verbunden, dass sie mit ihrer Familie seinen Tod nicht überleben wollten.
Für seinen Biografen hat Goebbels damit „seine Beziehung zu seinem Idol, so wie er sie sah, für alle Zeiten festgeschrieben. Seine Lebenslüge hatte am Ende gesiegt.“ Und Deutschland den totalen Krieg verloren, den er 1943 im Sportpalast proklamiert hatte.
– Peter Longerich: Goebbels. Biographie. Siedler Verlag, München 2010. 910 Seiten, 39,99 Euro.
Hannes Schwenger
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