Paul McCarthys Kunst-Installation "The Box": Der total verrückte Arbeitsplatz
Im Glaskubus der Neuen Nationalgalerie in Berlin steht neuerdings eine kuriose Kiste. Sie enthält ein Atelier. Wer hineinschaut, findet es ein bisschen verrückt. Oder vielleicht eher sich selber? Wie "The Box" des Künstlers Paul McCarthy die Sinne verwirrt - und Spaß macht.
Endlich Platz! Nach der Richter-Retrospektive, in der die Bilder so gedrängt gehängt waren, als gelte es, sie per Inflation zu bloßem Material herabzuwerten, herrscht in Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie wieder die majestätische Leere purer Potenzialität, die die Modernisten so liebten.
Ein einziges Ausstellungsstück ist in die Halle gestemmt, eine rohe Holzkiste, allerdings von den pompösen Dimensionen eines Schiffscontainers. Von der Mitte schräg nach hinten links ragend, wendet sie den Eintretenden den Rücken zu. Auf der anderen Seite, wo ein kleines Podest bereitsteht, gewährt eine fenstergroße Öffnung Einblick in ein Wimmelbild in Lebensgröße: Die Großinstallation „The Box“ besteht aus dem gesammelten Inhalt eines Arbeitsraums von Paul McCarthy, den der Künstler 1999 ausgemistet hat – allerdings um 90 Grad auf die Seite gekippt. Zeichentisch, Videoschnittpult, Aktenregale, Leitern und Kistenstapel ragen von der rechten Wand waagrecht in die Luft, von gegenüber starren die Neondeckenlichter wie eine minimalistische Lichtarbeit Dan Flavins, und oben öffnen die Fenster den Blick auf die Stahlträger der Nationalgalerie.
Die Loslösung eines Raums mitsamt den Spuren individueller Arbeit aus seinem lokalen Kontext und seine Überführung in die Verschiffbarkeit spiegelt hier im Mies-Bau die Utopien der Modernisten von massenproduzierten Lösungen und uneingeschränkter Mobilität. Dieser universelle Anspruch, der sich heute im globalen Wanderzirkus der Kunstindustrie erfüllt, öffnete das Bauhaus ideologischen Vereinnahmungen durch Faschismus, Kommunismus wie Finanzkapitalismus gleichermaßen.
Auch McCarthys „Umzugskiste“, wie Direktor Kittelmann die Arbeit tätschelnd nennt, muss es sich gefallen lassen, in der Eröffnungsrede als Metapher auf den geplanten Einzug der klassischen Moderne in die Räume der Gemäldegalerie zu dienen – und dieses Vorhaben wirkt in der vorläufigen Verdrängung eines großen Teils der Alten Meister selbst wie ein durchweg modernes Projekt. Kurator Joachim Jäger, der „The Box“ auf Werke der im Untergeschoss gezeigten Sammlung bezieht, etwa ein Fallenbild von Daniel Spoerri, möchte im umgestürzten Künstleratelier wiederum das „Gehirn“ des Hauses sehen.
Stellen wir uns ein Gehirn in aller glitschigen Körperlichkeit vor, nähern wir uns schon eher der Kunst von Paul McCarthy. 1978 etwa schnitt er eine mit Ketchup und Mayonnaise beschmierte Gesichtsmaske auf und verwandelte sie in eine Barbiepuppe, die er anschließend mit einem Schraubenzieher penetrierte. Zusammen mit Mike Kelley eine Schlüsselfigur der kalifornischen Post-Pop-Szene, wurde McCarthy schon früh neben die blutigen Performances der Wiener Aktionisten gerückt. Wobei er das selbst mit dem Hinweis korrigierte, dass Ketchup kein Blut sei. Sein Bezugsrahmen waren nicht Genozid und Katholizismus, sondern die künstlichen Welten von Hollywood und Disneyland.
Konditionierung durch Medien und Familie sind seine Kernthemen. Seine oft bis ins körperlich Unerträgliche gehenden Performances, wie die Selbstknebelung mit Hot-Dog-Würsten von 1974, zielten nicht auf Provokation um ihrer selbst willen, sondern auf die Offenlegung der sublimierten Gewalt, die unter den glatten Oberflächen der Massengesellschaft schlummert, in polierten Medienbildern und im väterlich gesicherten Familienfrieden am Esstisch. So werden auch Heidi und Pinocchio in seinen Installationen und Skulpturen zu untoten Wiedergängern aus B-Horrorfilmen.
Wenn McCarthy mit „The Box“ nun in Atelierdarstellungen von Dürer über Menzel bis Courbet eingereiht wird, ist das also der bravstmögliche Einblick in das Werk des 66-Jährigen. Sauber sind die Gegenstände nach Steckplan angebracht, wobei die Aushebelung der Schwerkraft ihren Reiz hat, wenn sich knapp über dem hereingesteckten Kopf die Filmkisten in die Horizontale stapeln.
„Für mich war es nie besonders wichtig, dass es sich um mein eigenes Studio handelt“, torpediert McCarthy im Gespräch die Mythifizierung des Schaffensortes. „Ich blickte damals vom Flur aus in den Raum und dachte: Ich könnte den umdrehen!“
McCarthy will grundsätzlich Souveränität und Unschuld der Betrachter aushebeln – etwa mit der Skulptur „Rear View“ von 1974, in deren Guckloch der Sehnsuchtsort einer Alpenidylle lockt. Dazu musste der Besucher allerdings den Blick in einen gipsernen Anus lenken, wobei er im Bücken das eigene Hinterteil den Blicken der Umstehenden preisgibt.
Stimmt, sagt McCarthy am Eröffnungsabend, er habe „Rear View“ und „The Box“ nie im Zusammenhang gesehen, Aber es gebe durchaus Gemeinsamkeiten, vor allem in der andächtigen Warteschlange, die sich automatisch bildet.
Ist bei „Rear View“ die Schweiz innen, so ist sie bei „The Box“ außen – in der Holzverschalung, die zur ersten Ausstellung 1999 in St. Gallen angefertigt wurde. Damals wurde Sammler Flick auf die Arbeit aufmerksam, die damit mal wieder auf die Privilegierung einer selektiven Privatsammlung durch die Staatlichen Museen verweist. Ihnen dient die aus dem Depot geholte Kiste nach dem wirtschaftlichen Risiko der Richter- Schau vor allem als Erholungspause.
Den Originalraum in Pasadena benutzt McCarthy noch immer. „Es ist aber nicht so, dass dort besonders viel passiert. Ich schneide dort Videos.“
Bis 4. November in der Neuen Nationalgalerie am Kulturforum