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Kultur: Der Tod steht ihnen gut

Beim Theaterfestival von Avignon überzeugen nur die Großproduktionen.

Schwarzer Sand bedeckt die Bühne im Ehrenhof des Papstpalastes. Riesige gebogene Metallflächen ragen auf. Es könnten die Reste eines Schiffsrumpfes sein, Spuren einer Havarie auf einer fernen Insel. So entfernt wie der Ort des Geschehens, so fern und fremd ist uns auch Tschechow in dieser letzten Premiere beim diesjährigen Festival d’Avignon: „Die Möwe“, inszeniert vom Theaterleiter in Orléans, Arthur Nauzyciel. In Nauzyciels Arbeit stecken die Akteure in schwarzer Kleidung, passend zum Boden sind Füße und Beine schwarz geschminkt. Auf dem Boden liegt ein Mann, es ist der Dichter Treplew und alles, was folgt, soll wohl als Totenfeier begriffen werden. Zu Beginn setzen sich die Akteure Möwenmasken auf, promenieren mit abgespreizten Armen, tänzeln neckisch. Wenn sie schließlich anfangen, zueinander zu sprechen, dann im hohen, hohlen Ton eines absurden Pathos.

Das ist eine Diktion, die mit dem müßigen Parlando der Tschechow-Gesellschaft nichts zu tun hat und den Text in ein Register drückt, in dem selbst Shakespeare nicht mehr gut klingen würde. Naturgemäß machen die Schauspieler in solchen Kopfgeburten des Regisseurs keine gute Figur. Bis auf die Manierismen der Dominique Reymond, die die Schauspielerin Irina Nikolajewna Arkadina verkörpert, schafft es keiner ohne Verkrampfung in die noble pathetische Erstarrung. Fast alles wird zum Publikum hin deklamiert. Figurenentwicklung, Figurenbezüge, die stichelnden Untertöne, die Nuancen von Boshaftigkeit und Verdruss, die dekadente Langeweile, all das ist getilgt im Dienste der falschen Pose. Tschechow, der selbst im Verlöschen seiner Figuren noch das Leben emphatisch feiert, überlebt diesen Angriff nicht. Gänzlich in einen Requiemston taucht die Musik des englischen Folkmusikers Matt Elliott die mit vier Stunden tödlich überdehnte Aufführung.

Mit Nauzyciels morbidem Manierismus erlebt ein französisches Theater seinen feierlichen Untergang, das immer schon in der Gefahr stand, sich aus Scheu vor dem lebendigen Inhalt in die tote Form zurückzuziehen, weil es glaubte, dort immerhin schön auszusehen. Es sucht Zuflucht vor der Gegenwart in Rhetorik und Erstarrung. Auch kleinere Arbeiten französischer Regisseure überzeugten kaum, mit Ausnahme von Guillaume Vincents „La Nuit tombe“. Ein Hotelzimmer ist hier Bindeglied in einer Abfolge von kurzen Szenen, in denen sich drei Geschichten ineinander verschränken. In Spannungsmomenten, die an Hitchcock erinnern, dringt das Unheil, angekündigt durch böse Vorzeichen, ins Zimmer ein.

Vollends belanglos sind dagegen die Ideen, mit denen Bruno Meyssat in „15 %“ der Finanzkrise zu Leibe rücken will. Sattsam bekannte Informationen über die Hintergründe der betrügerischen Spekulationen von Banken und Ratingagenturen begleiten absurde Performanceideen mit Rasenmäher, Heckenschere und Papierstreifen. Die Stückcollage „W /GB 84“ von Jean-François Matignon erinnert an einen für Englands Wirtschaftsgeschichte und den Triumph neoliberaler Politik wichtigen Bergarbeiterstreik aus der Thatcher-Ära und verbindet ihn dramaturgisch unlogisch mit Büchners „Woyzeck“.

Das Festival sollte ein Rendezvous mit der Gegenwart sein, aber der französische Anteil blieb ein misslungener Flirtversuch. Nur mit Uraufführungen und Premieren internationaler Künstler überzeugte Avignon. Ein Ereignis musste die von Sparauflagen und Abwicklungen bedrohten Theatermacher Frankreichs beruhigen. François Hollande besuchte das Festival und demonstrierte damit im Unterschied zum Kulturverschmäher Sarkozy die Kulturaffinität der französischen Sozialisten. Und die junge, erfrischend unprätentiöse Kulturministerin Aurélie Filippetti versicherte in einer Debatte, dass Kultur für sie auch in der Krise ein integraler Bestandteil der französischen Wirtschaft und Gesellschaft sei – und ein Teil der Citoyenneté, der französischen Staatsbürgerschaft.

Eberhard Spreng

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